Frau liegt auf dem Sofa, der Oberkörper inklusive Kopf ist bedeckt mit einer hellrosa Decke
Viele fühlen sich vom Weltgeschehen erschlagen, wollen sich am liebsten verkriechen. Das ist völlig normal, sagt eine Expertin. Trotzdem sollten wir einen Umgang damit finden.
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Kriege toben, die Klimakrise schreitet noch schneller voran als lange angenommen, viele sind von finanziellen Sorgen geplagt, und dann gab es ja auch noch eine Pandemie. Wie soll man da vor lauter Weltschmerz nicht durchdrehen? Mit Abgrenzung und viel Selbstfürsorge, rät die Psychotherapeutin Marlene Huemer.

STANDARD: Die bedrückenden Nachrichten überschlagen sich im Moment. Können wir das überhaupt noch alles aufnehmen und differenzieren? Oder kommt in unserer Psyche nur noch die Nachricht "Alles ist schlimm" an?

Huemer: Das kommt ganz darauf an, wie achtsam wir Nachrichten konsumieren und wie sehr wir uns den negativen Nachrichten täglich aussetzen. Es gibt eine Vielzahl an schlechten, schwierigen, problematischen, fast aussichtslosen Themen, das ist Tatsache. Und es ist auch völlig normal, dass einen immer wieder ein Gefühl von Ohnmacht und Traurigkeit, möglicherweise auch ein Gefühl der Bedrohung quält, wenn man sich dem Weltgeschehen zuwendet. Gleichzeitig müssen wir die Situation auf der Welt, in der wir leben, annehmen und, so gut es geht, bei uns bleiben.

STANDARD: Ist das nicht wahnsinnig egoistisch?

Huemer: Nein, denn der Umgang mit der aktuellen Situation hat viel mit uns selbst zu tun. Dabei geht es um Fragen wie: Wie geht es mir grundsätzlich in meinem Leben? Was gibt mir in meinem täglichen Dasein Halt? Auf einer Metaebene geht es auch um das Bewusstsein, dass ein menschliches Leben der Endlichkeit unterliegt. Diese Endlichkeit hat es unabhängig von tragischen Katastrophen immer gegeben, die wird es immer geben, und die müssen wir annehmen.

Entscheidend ist allerdings, von diesem ganz großen Denken auf der Metaebene wieder ins persönliche Hier und Jetzt zurückzufinden und nach Wegen zu suchen, wie man im persönlichen Rahmen etwas Positives zu dieser Welt beisteuern kann. Wie kann ich in Alltagssituationen deeskalierend wirken? Inwiefern kann ich mit meinem Tun wirksam sein? Die Ohnmacht schwindet, wenn man merkt, dass man sehr wohl ermächtigt ist, Dinge anders und besser zu machen, und man im kleinen Rahmen Zivilcourage zeigen kann.

STANDARD: Bei manchen führt dieser Gedanke zu Frustration, nach dem Motto: Was macht es denn noch für einen Unterschied, ob ich im täglichen Leben Zivilcourage zeige, während rundherum gefühlt die Welt untergeht?

Huemer: Wenn man schon an dem Punkt ist, dass man sich denkt "Es ist eh schon alles wurscht. Alles ist oasch auf der Welt", dann ist es höchste Zeit für Maßnahmen. Denn eine ständige innere Anspannung ist nicht gesund. Das heißt konkret: Negativnachrichten drosseln, den Nachrichtenkonsum einschränken und sich selbst Gutes tun. Wenn das alles nicht mehr klappt und man sich dadurch nicht besser fühlt, dann darf man sich selbst fürsorglich die Frage stellen: Habe ich vielleicht eine leichte Depression?

STANDARD: Wann wird Weltschmerz zur Depression?

Huemer: Grundsätzlich ist es ja etwas Gutes, wenn man merkt, dass man empathisch ist und einen die Grausamkeiten nicht kaltlassen. Entscheidend ist dann aber die Frage: Fordert mich dieses Gefühl dazu auf, etwas zu tun, aktiv zu werden, oder erschlägt mich der Weltschmerz, und ich kann das Leben nicht mehr als etwas Schönes wahrnehmen?

Wenn der Weltschmerz über Wochen hinweg anhält, sollten die Alarmglocken schrillen. Die Hauptsymptome für eine Depression sind ständig gedrückte Grundstimmung, Antriebslosigkeit und Interessenverlust. Andere Anzeichen sind Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Schlafprobleme, Zukunftsängste und generell Probleme mit dem eigenen Selbstwert: Habe ich Vertrauen in mich?

Verliert man das Interesse an Dingen, die einem eigentlich immer Spaß gemacht haben, und kommt morgens nicht mehr gut aus dem Bett, weil man sich am liebsten verkriechen würde, sollte man für sich selbst Verantwortung übernehmen und professionelle Unterstützung suchen.

STANDARD: Psychotherapie ist in Österreich nach wie vor ein großes Privileg. Viele können sich Therapie aus der eigenen Tasche schlicht nicht leisten, die Wartezeiten für kassenfinanzierte Plätze sind lang. Wie kann man die Zeit überbrücken?

Huemer: Das stimmt, es ist eine Herausforderung. Trotzdem sollte man versuchen, möglichst rasch über die ÖGK einen Platz zu bekommen. Parallel kann man im Netz recherchieren, welcher Therapeut oder welche Therapeutin einen anspricht, und nachfragen, ob man einen Sozialtarif vereinbaren kann. Das ist in vielen Fällen möglich. Es gibt auch zwei hilfreiche Initiativen. Über den Verein Iwik und das Projekt Tiram kann man kostengünstig Therapieangebote nutzen.

Wenn Therapie keine Option ist, geht es darum, dennoch den Halt im Leben zu behalten. Der Austausch mit anderen Menschen, bei denen man sich mit seinen Gefühlen gut aufgehoben fühlt, ist immens wichtig. Außerdem sollte man täglich einen Ausgleich zur belastenden Nachrichtenlage finden. Da geht es zum einen um genügend Zeit für sich selbst. Man darf ganz bewusst Zeiten schaffen, in denen man Müßiggang lebt, ein bisserl herumtrödeln und Kreativität entdecken kann. Auf der anderen Seite geht es um den Spaß am Leben. Wann hat man eine richtige Gaudi? Das kann alles Mögliche sein: Musik, Sport, in den Prater gehen, im Park Tischtennis spielen. Es geht darum, das Leben mit den Sinnen zu erleben und nicht mit den Gedanken.

Porträt der Psychotherapeutin Marlene Huemer
In Krisenzeiten ist es besonders wichtig, gut auf sich zu achten und einen gesunden Nachrichtenkonsum zu etablieren, rät die Psychotherapeutin Marlene Huemer.
Karin Hackl

STANDARD: Manche ertappen sich dabei, wie sie beim Blick in die Zeitung oder auf Newsportale von den vielen schlimmen Meldungen gar nicht mehr überrascht, betroffen sind beziehungsweise nicht mehr sein können. Wie kann man verhindern, dass man abstumpft? Oder ist Abstumpfen eine Form von Selbstschutz?

Huemer: Extreme sind für uns meistens nicht nützlich. Es macht keinen Sinn, sich täglich über Push-Nachrichten ungefiltert über alle Tragödien dieser Welt zumüllen zu lassen. Fühlt man sich schon abgestumpft, kann das ein Zeichen sein, dass man sich mit dem Nachrichtenkonsum in letzter Zeit etwas zu viel zugemutet hat. Gleichzeitig ist es auch keine gesunde Lösung, gar nichts an sich heranzulassen. Es ist wichtig, über seriöse Medien mitzukriegen, was in der Welt passiert. Hier muss jeder und jede für sich eine gute Balance finden.

Wichtig ist auch, die Kontrolle darüber zu behalten, wann welche Informationen auf uns einprasseln. Oft scrollt man nichtsahnend durch lustige Instagram-Postings, und plötzlich sieht man Nachrichten, auf die man überhaupt nicht eingestellt war.

STANDARD: Häufig sind das auch sehr explizite Fotos und Videos von Gräueltaten. Inwiefern wirken solche Bilder anders als Nachrichten in Textform?

Huemer: Über Bilder können wir Gefühle besser verstehen. Das bedeutet aber auch, dass Bilder viel mehr Emotionen wie Trauer, Wut oder Ohnmacht bei uns auslösen als reiner Text.

STANDARD: Die Faktenlage lädt nicht gerade zu Zuversicht ein. In vielen Bereichen zeigt sich sehr klar: Es wird so schnell nicht besser. Die Kriege werden noch lange andauern, die Klimakrise schreitet schneller voran als gedacht, politisch kommt ein Rechtsrutsch, da sind sich nahezu alle Fachleute einig. Wie behält man trotzdem die Zuversicht?

Huemer: Es stimmt, die vielen Brutalitäten auf dieser Welt geben genügend Anlass, nicht zuversichtlich zu sein. Es geht um das Trotzdem, das dem Ganzen folgen sollte. Trotzdem haben wir alle jetzt gerade unser Leben in diesem Moment, und wir dürfen unser Leben leben, obwohl vieles rundherum belastend und problematisch ist. Wir dürfen trotzdem erkennen, was es alles Schönes und Hoffnungsvolles gibt. Und wir dürfen trotzdem Spaß haben. Schließlich ist die wichtigste Frage an uns selbst: Was kann ich trotz allem selbst machen, um am Ende des Tages sagen zu können: "Es war nicht leicht, aber ich habe das Beste daraus gemacht"? (Magdalena Pötsch, 11.10.2023)