In Wien weht am Kanzler- und Außenamt nach den verheerenden Hamas-Angriffen die Israel-Flagge. Noch vor zwei Jahren hatte eine ähnliche Geste dazu geführt, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Österreich "verfluchte" und eine diplomatische Krise vom Zaun brach.

Nehammer und Erdogan.
Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) bei Präsident Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei.
AFP/ADEM ALTAN

Nun – zwei Jahre, einen Kanzlerwechsel und heftige weltpolitische Umbrüche (Stichwort: Ukrainekrieg) später – sieht die Lage anders aus: Österreichs Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) wurde am Dienstag in Ankara von Erdoğan mit großem Tamtam im Präsidialpalast in Empfang genommen.

Der erste österreichische Kanzlerbesuch in der Türkei seit 2001 ist eines der vielen Anzeichen dafür, dass sich die noch bis vor kurzem von Spannungen geprägten bilateralen Beziehungen verbessert haben. Den Schatten auf das ursprünglich für die Bereiche Migration und Wirtschaft geplante Treffen warf diesmal nicht ein Streit über die Israel-Flagge, sondern die geteilte Sorge über die Lage in Nahost nach den Angriffen durch die radikalislamische Hamas, bei denen möglicherweise auch drei Österreicher als Geiseln genommen wurden.

Erdoğan als Vermittler?

"Ziel ist es, eine Einflussnahme zu erwirken – insbesondere auf die Hamas, um sich für die Befreiung der Geiseln einzusetzen", äußerte sich Nehammer im Hinblick auf das militärische und politische Gewicht der Türkei in der Region vor dem Treffen mit Erdoğan. Aus demselben Grund hatte er am Montag mit dem ägyptischen Präsidenten Abdelfattah al-Sisi telefoniert.

Erdoğan, der als ausgesprochener Freund der Palästinenser gilt, ist in den vergangenen Tagen mit recht moderaten Äußerungen zur jüngsten Eskalation in Nahost aufgefallen. Nach seinem Treffen mit Nehammer rückte er die Notwendigkeit einer Zweistaatenlösung in den Fokus – andernfalls sei kein Ende der Gewaltspirale zu erwarten. "Unsere Schwestern und Brüder in Gaza sind seit zwei Tagen unter Beschuss", sagte Erdoğan. Auch auf israelischer Seite seien Tote und Verletzte zu beklagen. Der türkische Präsident sprach sich für eine Deeskalation durch Diplomatie aus. "Wie sind wir dahin gekommen, müssen wir uns fragen", so Erdoğan.

Erdoğan, der seit dem Wochenende mit zahlreichen Staatschefs in der Region telefoniert haben will und noch Dienstag mit Russlands Präsident Wladimir Putin spricht, hat sich als Vermittler in dem Konflikt angeboten. Für Israel ist es dafür jedoch noch zu früh. Ebenso unklar ist, ob die Hamas in Erdoğan einen Vermittler sehen würde: Er bezeichnet sie zwar nicht als Terrororganisation, und der Hamas-Anführer war erst im Juli in Ankara, dennoch wurden in den vergangenen Monaten mehrere Hamas-Funktionäre laut Berichten aus der Türkei ausgewiesen.

Nehammer will nicht mit Erdoğan kuscheln

Seit seiner Wiederwahl im Frühjahr sprechen viele Beobachter von einer Art Charmeoffensive Erdoğans gegenüber Europa – zumindest schlägt er einen milderen Ton gegenüber der EU an. Klar ist, die massiv unter der Inflation (offiziell rund 61 Prozent) leidende Wirtschaft der Türkei braucht Europa. Und auch für die EU führt – insbesondere in der Flüchtlingsfrage – kein Weg an der Türkei vorbei.

Man verfolge angesichts etlicher Differenzen einen "pragmatischen Ansatz" und keinen "Kuschelkurs", hatte Nehammer zuvor auf Nachfrage über die schlechte Menschenrechtslage in der Türkei und die jüngsten türkischen Angriffe in nordsyrischen Kurdengebieten gesagt. Letztere hat Nehammer jedoch nach eigenen Aussagen nicht angesprochen.

Einen Platz für die Türkei in der EU sehe er jedenfalls nicht, sehr wohl aber für noch engere Wirtschaftsbeziehungen und eine Modernisierung der gemeinsamen Zollunion, stellte Nehammer in Ankara mehrfach klar – auch bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem "Freund" Erdoğan. Der sieht die EU wiederum nur mit einer Mitgliedschaft der Türkei "vollendet". Eine Alternative gebe es für ihn nicht, so Erdoğan. Einig war man sich jedoch, dass man die historischen Beziehungen zwischen Österreich und der Türkei ausbauen wolle.

Begleitet wurde Nehammer von Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) und einer Wirtschaftsdelegation aus Wirtschaftskammer, Industriellenvereinigung und namhaften Firmenvertretern (z. B. Andritz), die sich etwa für den schrittweisen Umstieg der Türkei auf Erneuerbare und Wasserkraft in Stellung bringen wollten. Derzeit ist die Abhängigkeit von fossilen Energieimporten aus Russland enorm.

Die Türkei ist für Europa zentral

Ebenfalls wesentlicher Teil der Delegation Nehammers: Innenminister Gerhard Karner (ÖVP). Sein Fokus lag klar auf den Migrationsagenden. Österreich verzeichnet derzeit eine recht hohe Anzahl an Asylanträgen (heuer bereits 45.000) von Menschen etwa aus Syrien und Afghanistan, die großteils von der Türkei über die Landgrenze und den Balkan kommen. Darunter sind auch immer mehr türkische Staatsbürger, die allerdings großteils weiterziehen und teilweise wieder abgeschoben wurden.

Die EU verhandelt derzeit mit Ankara, wie der ins Stocken geratene Flüchtlingsdeal von 2016 revitalisiert werden könnte. Bis einschließlich 2023 wurden der Türkei rund zehn Milliarden Euro zugeteilt, um die mehr als drei Millionen syrischen Flüchtlinge im Land nicht einfach nach Europa weiterziehen zu lassen und Migranten von den griechischen Inseln zurückzunehmen (das ist jedoch schon seit 2020 nicht mehr der Fall). Fortan sind bisher keine weitere Zahlungen vereinbart. "Der Deal hält noch", sagen Nehammer und Karner mit Verweis auf einen andernfalls deutlich höheren Migrationsdruck. Details, über die er mit seinem Amtskollegen sprechen wollte, nannte Karner auf Nachfrage nicht.

Griechenland hat jüngst vorgeschlagen, die EU solle Ankara weitere drei Milliarden zur Verfügung zu stellen, um die Grenzen – künftig auch die Landesgrenzen – weiter dicht zu halten und Flüchtlinge im eigenen Land zu versorgen. Zuvor hatte Athen Ankara vorgeworfen, nachlässig an den Grenzen geworden zu sein. Neben weiteren Geldern dürfte sich die Türkei eine Visaliberalisierung für ihre Staatsbürger erhoffen. Da ist Nehammer jedoch dagegen: Es seien lediglich "Visaerleichterungen" drin. (Flora Mory aus Ankara, 10.10.2023)