Der Chef der Internationalen Energieagentur, Fatih Birol
Wieder Krieg in Nahost. Abgesehen vom menschlichen Leid sei das auch Gift für die Wirtschaft, die unter hohen Preisen leide, sagt Fatih Birol, Chef der Internationalen Energieagentur.
Lukas Friesenbichler

Er ist einer der gefragtesten Energieexperten, meist unterwegs, selten im Büro in Paris: Fatih Birol. Trotz gedrängten Terminkalenders nimmt sich der Chef der Internationalen Energieagentur (IEA) bei einem Kurzbesuch in Wien Zeit für ein Gespräch mit dem STANDARD. "Ich war noch nie in eurer Redaktion, das trifft sich gut", sagt er. Ein Espresso, ein Glas Wasser, Birol ist bereit.

STANDARD: Der Angriff der Hamas auf Israel hat viele Leute schockiert, die Ölpreise sind gestiegen. Müssen wir uns für längere Zeit auf höhere Notierungen einstellen?

Birol: Die Ölpreise waren schon zuvor hoch. Einmal wegen der starken Nachfrage insbesondere aus China, das sich aus dem Covid-Tal herausbewegt hat. Zum anderen wegen der signifikanten Förderkürzungen, die Saudi-Arabien und Russland vereinbart haben. Als Folge sehen wir seit Monaten eine Verknappung am Ölmarkt. Wie nachhaltig sich der Krieg in Nahost auf den Ölpreis auswirken wird, werden wir in den nächsten Wochen sehen, und auch, ob noch andere Länder hineingezogen werden. Die Region steht für ein Drittel der globalen Ölexporte. Unruhige Zeiten stehen bevor.

STANDARD: Viele Länder stecken in einer Rezession. Kann das teure Öl die erhoffte Konjunkturerholung bremsen?

Zwei große Herausforderungen

Birol: Auf jeden Fall, das haben wir auch in der Vergangenheit gesehen. Hohe Ölpreise bremsen nicht nur das Wirtschaftswachstum, sondern sorgen für zusätzlichen Druck. Davon betroffen ist nicht nur Europa, noch mehr leiden die Entwicklungsländer, insbesondere jene, die viel Öl importieren müssen. Das wird zu einer schweren Last für sie.

STANDARD: Europa hat jahrzehntelang auf billiges Gas aus Russland gebaut. Das ist vorbei. Wie kann der Kontinent im internationalen Wettbewerb dennoch reüssieren?

Birol: Für Europas Wirtschaft sehe ich zwei große Herausforderungen: einmal die Energiepreise, die einen hohen Anteil an den Gesamtproduktionskosten vor allem in der Eisen- und Stahlindustrie, aber auch in vielen anderen Sektoren haben.

STANDARD: Von den Höchstständen nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine sind sie doch relativ weit weg?

Birol: Dennoch sind die aktuellen Gaspreise in Europa viermal so hoch wie in den USA und dreimal so hoch wie in China. Die erste Herausforderung wird sein, diesen Kostennachteil für die Schwerindustrie in Europa zu überwinden, sei es durch Subventionen, steuerliche Maßnahmen oder andere kreative Lösungen. In Europa sind in dem Bereich an die zehn Millionen Menschen beschäftigt. Wenn die Regierungen jetzt nicht die richtigen Entscheidungen treffen, werden viele dieser Industrien verschwinden bzw. Produktionen in die USA oder den Mittleren Osten verlagern – in Regionen, wo Energie deutlich billiger ist.

Der Chef der Internationalen Energieagentur, Fatih Birol
Warnt vor Verlagerung von Produktionen in Regionen, wo Energie deutlich billiger ist als in Europa: IEA-Chef Fatih Birol.
Lukas Friesenbichler

STANDARD: Was noch?

Birol: Wir stehen an der Schwelle eines neuen Industriezeitalters, das dominiert wird von sauberen, energieeffizienten Produktionsweisen. Heute ist China führend auf diesem Gebiet. An die 80 Prozent der weltweit hergestellten Batterien stammen von dort. Etwa acht von zehn Solarmodulen werden ebenfalls in China gefertigt. Jetzt kommen die USA mit dem Inflation Reduction Act und melden ihrerseits den Anspruch an, ein großer Player auf dem Gebiet der grünen Technologien zu werden. Europa ist definitiv in keiner guten Position.

STANDARD: Dabei waren europäische Länder einmal führend.

Birol: Deutschland und Italien waren die Ersten, die den Aufbau einer Solarindustrie mit Subventionen unterstützt haben. Der Aufbau grüner Technologien ist vergleichbar einem Marathonlauf. Man gewinnt keine Medaille, wenn man nach den ersten zehn Kilometern vorne liegt. Gold gibt es erst, wenn man nach 42 Kilometern immer noch Erster ist.

Kostenabstand überbrücken

STANDARD: Das wurde versemmelt. Gibt es Technologien, bei denen Europa noch eine wichtige Rolle spielen kann?

Birol: Viele. Wasserstoff gehört dazu, auch Windenergie. Europa braucht aber einen Masterplan, wie der Kostenabstand bei bestehenden Technologien überbrückt und welche grünen Technologien ins Zentrum gerückt werden sollen.

STANDARD-Redakteur Günther Strobl im Gespräch mit IEA-Chef Fatih Birol im STANDARD-Verlagsgebäude
Sieht in Wasserstoff eine wichtige und vielversprechende Lösung, aber erst auf längere Sicht: IEA-Chef Fatih Birol im Gespräch mit STANDARD-Redakteur Günther Strobl.

STANDARD: Europa kann im wesentlichen nur Wind- und Solarstrom bzw. Derivate davon herstellen?

Birol: Wasserstoff ist eine wichtige und vielversprechende Lösung, aber nicht für heute, nicht für morgen, sondern erst für übermorgen. Wir brauchen aber schon vorher Lösungen. Erneuerbare sind wichtig, Energiesparen auch. Europa muss kurz- bis mittelfristig neue Gasquellen erschließen. Die gute Nachricht ist, dass 2025 viel zusätzliches LNG (verflüssigtes Erdgas, Anm.) aus Katar, den USA und anderswo verfügbar sein wird. Bis dorthin kann es noch schwierig werden für Europa.

STANDARD: Voriges Jahr haben sich viele Menschen Sorgen vor dem Winter gemacht. Wie sieht es heuer aus?

Birol: Die Gasspeicher sind gut gefüllt. Dennoch kann man keine Entwarnung geben. Wenn der Winter kalt wird und Russland seine Gaslieferungen komplett einstellt, wird es herausfordernd für Europa.

Peak Oil schon vor 2030

STANDARD: China ist einer der größten CO2-Emittenten, aber auch einer der größten Investoren in erneuerbare Energien. Wie lässt sich das erklären?

Birol: China ist die Nummer eins bei Sonnenenergie, Wind, Elektroautos, Batterien, Wasserstoff ...

STANDARD: ... und bei Kohle.

Birol: Das stimmt. Gut 90 Prozent des Verbrauchswachstums bei Kohle waren in den vergangenen zehn Jahren auf China zurückzuführen. Dort werden Kohlekraftwerke, aber auch Atommeiler gebaut, um in Zeiten geringer Wasserführung und hohen Strombedarfs auf der sicheren Seite zu sein. In wenigen Jahren wird der Kohleverbrauch auch in China zurückgehen, nicht aus Umwelt-, sondern aus ökonomischen Gründen. Sonnenenergie ist so viel günstiger.

STANDARD: 2023 steuern wir auf ein Allzeithoch bei der weltweiten Ölnachfrage zu. Der Abgesang auf das fossile Zeitalter scheint verfrüht, oder?

Birol: Heuer erwarten wir eine Zunahme der globalen Ölnachfrage um zwei Millionen Fass am Tag. Für gut zwei Drittel ist China verantwortlich. 2024 rechnen wir mit deutlich weniger Ölnachfrage. Zum einen, weil immer mehr Elektroautos auf die Straße kommen, zum anderen, weil Chinas Wirtschaft langsamer wächst. Wir werden Peak Oil, aber auch Peak Kohle und Peak Gas schon vor 2030 sehen.

Fatih Birol, Chef der Internationalen Energieagentur
IEA-Chef Fatih Birol erwartet heuer einer Zunahme der globalen Ölnachfrage um zwei Millionen Fass (je 159 Liter) am Tag.
Lukas Friesenbichler

STANDARD: Das wurde schon oft vorhergesagt, eingetroffen ist es nie.

Birol: Nicht von der Internationalen Energieagentur. Unser Vorteil ist, dass wir auf der größten Energiedatensammlung der Welt sitzen. Wir sehen, dass selbst ohne verschärfte Klimapolitik der Peak bei Kohle, Öl und Gas noch vor Ende dieses Jahrzehnts erreicht wird.

STANDARD: Können die Klimaziele doch noch eingehalten werden?

Birol: Ich habe großes Vertrauen in saubere Energietechnologien. Das allein reicht aber nicht. Die Staaten müssen auch liefern, wozu sie sich beim Klimagipfel in Paris verpflichtet haben. Die Weltklimakonferenz in Dubai (COP 28 vom 30. November bis 12. Dezember, Anm.) wäre eine gute Gelegenheit, Nägel mit Köpfen zu machen.

(Günther Strobl, 10.10.2023)