Zwei Frauen unterhalten sich vor dem Kreml in Moskau.
Die Verwerfungen der russischen Wirtschaft fallen weniger stark aus als erhofft.
AFP/ALEXANDER NEMENOV

Ein größeres Wirtschaftswachstum als in den EU-Staaten, Arbeitslosigkeit auf einem Rekordtief und eine abflachende Inflation: Laut einer aktuellen Prognose des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) steht Russlands Wirtschaft trotz Sanktionen eineinhalb Jahre nach dem Überfall auf die Ukraine vergleichsweise gut da. Ein Wachstum in der Höhe von 2,3 Prozent in diesem Jahr wird den Rückgang von letztem Jahr ausgleichen.

"Die enorme Erhöhung der Militärausgaben befeuert einen Rüstungsboom, der gemeinsam mit stark steigenden Reallöhnen aufgrund des akuten Arbeitskräftemangels die Konjunktur nach oben zieht", sagt Vasily Astrov, Russland-Experte des WIIW. Dieses Jahr liegen die Ausgaben für das russische Heer bei vier Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP), nächstes Jahr sollen sie bei sechs Prozent liegen, also etwa bei einem Drittel der gesamten Staatsausgaben. Ein Budgetdefizit von 2,5 Prozent des BIP, das sich daraus ergibt, erscheint dem Ökonomen aber als tragbar: "Putin wird seinen Angriffskrieg leider noch länger finanzieren können."

Zwar leiden einige Sektoren, die von westlichen Sanktionen betroffen sind, die russische Militärproduktion konnten sie bisher allerdings nicht im erhofften Ausmaß treffen, heißt es in der Analyse. Die für die Rüstungsindustrie notwendigen Hightech-Bauteile aus dem Westen beschaffe sich Russland mittlerweile über Drittstaaten. Um die Umgehung zu verhindern, müsste die EU Drittländer wie China, die Türkei oder die Arabischen Emirate stärker unter Druck setzen. "Realistisch ist das aber nicht", sagt Astrov dem STANDARD.

"Primitivisierung" der Wirtschaft

Spurlos vorüber gehen die Sanktion an Russland freilich nicht: Die zum Teil recht aufwendige Umgehung der Sanktionen reicht laut Astrov nicht aus, um auch die restliche russische Wirtschaft ausreichend mit westlicher Hochtechnologie zu versorgen. Das werde zu einer "Primitivisierung" führen, die das Wachstum mittelfristig stark begrenzt.

"Natürlich ist eine Kriegswirtschaft bei der bloßen Berechnung des BIP förderlich", sagte WIIW-Direktor Mario Holzner bei einer Pressekonferenz am Mittwoch. "Je mehr sinnlose wirtschaftliche Aktivitäten ein Land unternimmt, desto stärker wird sich das aber auf Dauer rächen." Zudem befürchtet die russische Zentralbank eine Überhitzung der Wirtschaft, die die Inflation in Kombination mit dem schwächeren Rubel wieder anheizen könnte.

Doch sind die Zahlen aus Russland überhaupt noch vertrauenswürdig? "Ja, den russischen Statistiken – soweit sie überhaupt vorhanden sind – kann man vertrauen", sagt Ökonom Astrov auf Nachfrage des STANDARD. "Unsere Modellschätzungen stehen weitgehend im Einklang mit den offiziellen Statistiken."

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Russland kompensiert die wirtschaftlichen Verluste des vergangenen Jahres, die Ukraine erholt sich auf niedrigem Niveau.
STANDARD/WIIW

Ukraine erholt sich

Auch die ukrainische Wirtschaft hat sich laut der WIIW-Analyse leicht erholt. Für 2023 erhöht das WIIW seine Wachstumsprognose auf 3,6 Prozent des BIP. Die ukrainische Wirtschaft war im Zuge des Angriffs Russlands im Jahr 2022 allerdings um ein Drittel eingebrochen, wobei rund die Hälfte dieses Rückgangs auf Gebietsverluste zurückgeht. Das Land erholt sich also auf einem niedrigen Niveau.

Trotz der russischen Schwarzmeerblockade sind die Exporte landwirtschaftlicher Produkte von Juli bis August um 16 Prozent gestiegen. Das Importverbot für ukrainisches Getreide durch Polen und Ungarn sei jedoch ein "ernstes Zeichen für die zunehmende Spaltung der EU", sagt Olga Pindyuk, Ukraine-Expertin des WIIW. "Angesichts der hohen Kriegskosten, die 2023 für ein Budgetdefizit von 27 Prozent des BIP sorgen, wäre jede Kürzung der westlichen Hilfsgelder für die Ukraine verheerend."

Osteuropa unter Druck

Bisher zeigten sich die Volkswirtschaften Mittel-, Ost- und Südosteuropas relativ widerstandsfähig gegenüber den ökonomischen Folgen das Kriegs, jetzt geraten sie allerdings zunehmend unter Druck. Im zweiten Quartal 2023 rutschte das Wachstum etwa in Polen, Tschechien und Ungarn ins Minus. Betroffen sind hauptsächlich Staaten, die stark mit der schwächelnden deutschen Wirtschaft verwoben sind.

Besser sieht der Ausblick in Südosteuropa aus, etwa in Rumänien oder in Kroatien. Für das Gesamtjahr 2023 prognostiziert das WIIW den osteuropäischen EU-Mitgliedern insgesamt ein Wachstum von durchschnittlich 0,6 Prozent und damit ähnlich wenig wie in der Eurozone mit 0,5 Prozent.

Die Inflation, die ihren Zenit überschritten hat, dürfte laut WIIW auf absehbare Zeit ebenfalls hoch bleiben. Haupttreiber sind auch in Osteuropa die Lebensmittelpreise. Besserung ist für die osteuropäischen Staaten 2024 in Sicht. Im kommenden Jahr prognostiziert das WIIW für sie ein durchschnittliches Wachstum von 2,5 Prozent. (Jakob Pflügl, 11.10.2023)