Die meisten Bedingungen scheinen geschaffen, auch die Signale scheinen eindeutig. Man müsse im Nahen Osten Stärke zeigen, soll Premier Benjamin Netanjahu schon vor Tagen zu US-Präsident Joe Biden gesagt haben, nachdem Hamas-Terroristen am Samstag Orte nahe dem Gazastreifen gestürmt und dort ein Blutbad mit über tausend Opfern angerichtet hatten. Abschreckung sei nun von oberster Bedeutung. Daher "müssen wir nach Gaza". Soldaten und Material werden schon seit Tagen zusammengezogen, 300.000 Reservistinnen und Reservisten einberufen. Dass sich das Land seit 6 Uhr Früh am 7. Oktober im Krieg befindet, hat das Sicherheitskabinett schon am Montag beschlossen. Auf innenpolitischer Ebene liefen schon seit Tagen Gespräche über eine Einheitsregierung aus fast allen Parteien, um Israel durch die Zeit der Krise zu führen. Am Mittwoch gab es eine Einigung.

Gudrun Harrer in der ZIB2 zur Eskalation des Nahost-Konflikts
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Fixiert waren auch Besuche der Außenminister der wichtigsten Verbündeten: Der britische Chefdiplomat James Cleverly landete bereits am Mittwochvormittag, am Donnerstag wurde auch US-Außenamtschef Antony Blinken erwartet. Bereits geschickt haben die USA ihre Flugzeugträgerkampfgruppe rund um das Riesenschiff USS Gerald R. Ford. Spätestens nach der Abreise der Minister, so wurde erwartet, könnte es losgehen. Wie genau eine Bodenoffensive aussehen könnte, war aber weiterhin offen. Zwischen den unterschiedlichen Varianten gibt es zahlreiche Abstufungen. Alle gemeinsam haben sie beträchtliches Risiko für Israels Militär – und massive Gefahren für die Zivilbevölkerung in Gaza.

Militär

Militärisch scheint das Kräfteverhältnis auf den ersten Blick klar. Israel hat nicht nur die am besten ausgestattete und ausgebildete Armee der Region – diese ist noch dazu in einem Zustand der ständigen Bereitschaft. Die Einberufung einer Reservistengruppe von 300.000 über wenige Tage zeugt ebenfalls von der organisatorischen Stärke. Auch technisch ist der Vergleich zwischen der israelischen Armee mit ihren Panzern, Kampfjets und zahlreichen technischen Möglichkeiten und der Hamas, die all dies nicht hat, schnell gezogen. Allerdings hat sich die Extremistenorganisation, die seit knapp 20 Jahren den Gazastreifen regiert, angepasst.

Panzer mit Aufschrift
In der Nähe des Gazastreifens stehen die Panzer bereit – sie tragen auch bereits Kampfmarkierungen.
AFP/GIL COHEN-MAGEN

Sie hat oft billige Lösungen gefunden, um den hochtechnisierten israelischen Möglichkeiten zumindest irgendetwas entgegensetzen zu können. Eingeschmuggelte Antipanzerminen haben bereits vor mehr als einem Jahrzehnt im Libanon gezeigt, dass sie Israel zumindest Verluste zufügen können. Tausende krude Raketen aus Leitungsrohren und Dünger bringen das Abwehrsystem Iron Dome jedenfalls zeitweise an den Rand der Überlastung. Billige Videodrohnen erlauben den Hamas-Kadern, israelische Truppenbewegungen aus der Ferne zu beobachten. Dass die Organisation im Bereich der militärischen Planung dazugelernt hat, zeigen auch die Ereignisse vom Samstag, als tausende Kämpfer mit Low-Tech-Methoden und schierer Masse Israels ausgeklügelte Grenzblockade überwinden konnten.

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Geografie

Der Gazastreifen ist nicht groß und an vielen Stellen dicht bebaut. Um mit Panzern und Militärgerät in Richtung des städtischen Gebiets vorzudringen, von dem aus die Hamas operiert, braucht es landwirtschaftliche Nutzflächen, brache Felder oder zumindest ausreichend breite Wege – oder Landungsflächen für Boote. All das gibt es in Gaza nur in begrenzter Zahl, weshalb es wenige Möglichkeiten gibt, die Hamas militärisch zu überraschen. Der britische "Guardian" nennt in einem militärischen Überblick den Übergang Erez (der am Samstag noch ein Ziel der Hamas-Angriffe war) im Norden, das Gebiet bei Khan Younis im Süden sowie in der Mitte unbebautes Land am Rande von Gaza-Stadt.

Erklärvideo: Was die totale Abriegelung des Gaza-Streifens bedeuten würde
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Diese Örtlichkeiten hat die Hamas längst militärisch befestigt und zur Abwehr ausgerüstet. Dazu kommt das System von Militärtunneln, das die Terrorgruppe im letzten Jahrzehnt massiv ausgebaut hat – und dessen Umfang und genauer Verlauf Israels Militär wohl nicht vollständig bekannt ist. Verschärft wird die Lage aus Sicht Israels (aber auch der Zivilbevölkerung in Gaza) dadurch, dass ein Großteil des Landstrichs eng bebautes, städtisches Gebiet ist. Israelische Soldaten könnten schnell in den Häuserkampf geraten.

Die Ziele

Viel hängt dabei auch von den Zielen ab, die Israels Regierung für den Krieg gegen die Hamas setzt. In den vergangenen Jahren hat Israel, etwa nach starken Raketenangriffen, immer wieder Luftschläge im Gazastreifen geflogen. Sie waren nach einigen Tagen stets wieder vorbei. "Das Gras mähen" war dazu das militärisch-entmenschlichte Stichwort. Gemeint war damit, die Hamas so zu schwächen, dass sie Israel nicht massiv gefährlich werden kann. Dass das geht, hat sich am Samstag als schreckliche Fehleinschätzung erwiesen.

Die letzte große Bodenoperation, Protective Edge im Jahr 2014, hat aber ebenfalls nicht die gewünschten Ziele erbracht. Sie war damals gestartet worden, um das Tunnelsystem der Hamas zu zerstören. Nach rund eineinhalb Monaten war sie zu Ende, die Hamas vorerst geschwächt, 67 israelische Soldaten, sechs Zivilisten in Israel und über 2.000 Menschen in Gaza tot. Auch hier aber waren die Folgen nicht von langer Dauer. Daher sind nun aus der israelischen Regierung harte Forderungen zu hören, unter anderem jene nach einer völligen Zerstörung der Hamas. Wie genau das gehen soll, ist aber offen. Nicht zuletzt ist dabei auch zu beachten: Wichtige Figuren der Partei sind nicht im Gazastreifen, sondern im Libanon, in Katar und in der Türkei.

Strategie

Auch offen ist die strategische Frage, was nach der Hamas kommen sollte. Eine moderatere palästinensische Gruppe, die ihr folgen könnte, ist nicht in Sicht. Die Aussicht auf eine noch radikalere scheint wenig befriedigend. Israel selbst hat die Besetzung des Gazastreifens, den es 1967 erobert hatte, im Jahr 2005 selbstständig aufgegeben – aus guten Gründen, weil es Zweifel an der Nachhaltigkeit einer weiteren Besatzung gab. Nun, fast 20 Jahre später, wäre eine solche Operation ganz sicher nicht einfacher.

Humanitäres

An dieses Thema schließt sich auch die humanitäre Frage an. Schon jetzt steht es mit der Versorgung des dichtbesiedelten Küstengebietes massiv zum Schlechten. Mehr als die Hälfte der rund 2,3 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner ist für ihre Ernährung von Hilfen abhängig. Ein Großteil der Wasser- und Stromversorgung kommt, bisher aus Israel. Auch der Treibstoff wurde über Israel geliefert. Bisher: Denn seit einigen Tagen hat dessen Regierung eine vollständige Abriegelung des Gebietes durchgesetzt.

Der Strom ist bereits seit Tagen abgeschaltet, das einzige Kraftwerk im Gazastreifen hat mangels Treibstoffs am Mittwoch seine Arbeit eingestellt. Übrig bleibt eine Leitung aus Ägypten, die den Bedarf bei weitem nicht decken kann. Ähnlich ist es beim Wasser, das Israel nun abgestellt hat: Zwar gibt es Entsalzungsanlagen, die teils mit Hilfsgeldern gebaut wurden – ohne Energie sind aber auch diese nicht betriebsfähig. Dazu kommen die Folgen des Krieges: Israel betont, mit seinen Luftangriffen nur die Hamas ins Visier zu nehmen. Doch auch wenn dazu Anstrengungen unternommen werden: Das dichtbesiedelte Gebiet setzt Limits. Frühere Kriege, aber auch Luftangriffe haben viele zivile Opfer gefordert. Bereits nun, nach wenigen Tagen, verschärft sich durch die Zahl der Luftangriffe das Problem Obdachlosigkeit im Gazastreifen. Wie die Lage im Fall einer Besatzung wäre, ist schwer auszumalen.

Innere Sicherheit

Das hätte auch weitere Folgen für die innere Sicherheit in Israel. Die Lage im Westjordanland, galt schon bisher als instabil – was auch als Grund dafür gilt, wieso sich Israels Dienste weniger als bisher auf den Gazastreifen konzentrierten. Schon seit Monaten ist von einem möglichen massiven Ausbruch der Gewalt in dem Gebiet die Rede, vor allem rund um die Siedlungen und im arabischen Teil Jerusalems brodelt es gewaltig. Sollte es zu einer Bodenoffensive im Gazastreifen kommen, droht auch hier die Lage zu explodieren.

Außen- und Geopolitik

Darüber hinaus bestehen außenpolitische Gefahren. Dass die USA die USS Gerald R. Ford in die Gegend verlegten, liegt nicht nur am Konflikt in Gaza. In Washington fürchtet man einen größeren Krieg. Die massiv vom Iran unterstützen Hisbollah-Milizen im Libanon liefern sich schon seit Tagen an der Nordgrenze Israels Scharmützel mit der Armee. Sollte sich die schiitisch-libanesische Miliz zu einem Angriff entscheiden, stünde Israel vor einem Zweifrontenkrieg. Aber auch der Iran selbst ist betroffen. Dessen Regime zählt die "Zerstörung" Israels seit der Revolution 1979 zu seinem Kernprogramm. Teheran droht Israel. Auch den Iran soll die Stationierung des US-Flugzeugträgers abschrecken. Die Gefahr einer Eskalation besteht dennoch.

Dazu kommt, dass sich Israel eigentlich gerade in Verhandlungen über eine Normalisierung seiner Beziehungen mit Saudi-Arabien befindet, mit dem es den gemeinsamen Feind in Teheran teilt. Sollte eine Bodenoffensive lange anhalten und viele Opfer fordern, wären diese Verhandlungen wohl massiv erschwert. Auch jene Staaten, die die "Abraham Accords" schon unterzeichnet haben (zum Beispiel Bahrain, Vereinigte Arabische Emirate, Marokko), könnten dann unter Druck geraten, etwa durch große Proteste ihrer Bevölkerung.

Innenpolitik

Langfristig ist auch offen, wie sich der Konflikt innenpolitisch auswirken wird. Noch steht die Sammlung rund um Flagge und Armee auf der Tagesordnung. Früher oder später wird sich aber auch die Frage stellen, wie es weitergehen soll – und auch, ob etwa Premier Netanjahu oder die gegen ihn gerichtete Protestbewegung Schuld daran tragen, dass die Anzeichen für den Hamas-Angriff übersehen wurden. Spätestens dann kann es auch Streitigkeiten über den künftigen Kurs geben, Notstandsregierung hin oder her. (Manuel Escher, 11.10.2023)