An der Ostküste Dänemarks nahe der Stadt Jelling stehen zwei Steinmonumente aus dem 10. Jahrhundert, die häufig als "Geburtsurkunde" des Landes bezeichnet werden. Die auf den Jelling-Steinen eingravierten Inschriften aus der Wikingerzeit erwähnen Dänemark erstmals als einheitliches Gebilde. Doch es gibt dort noch viel mehr nachzulesen: Aktuelle Untersuchungen deuten darauf hin, dass eine Frau in dieser Region vor über 1.000 Jahren deutlich mächtiger war als bisher angenommen und die Geschicke des frühen dänischen Reiches möglicherweise maßgeblich beeinflusste.

Wikinger, Runenstein, Königin, Thyra
Der jüngere der beiden Jelling-Steine wurde von König Harald "Blauzahn" errichtet. Er erwähnt seine Mutter Thyra sowie die Bekehrung des Landes vom nordischen Heidentum zum Christentum im Jahr 965.
Foto: Roberto Fortuna/Dänisches Nationalmuseum

Blauzahns Mutter

Der ältere und kleinere der beiden Runensteine wurde von König Gorm dem Alten um 950 zu Ehren seiner Gattin Thyra errichtet. Der zweite, etwas jüngere Stein geht auf deren Sohn Harald I. "Blauzahn" Gormsson zurück. Er wurde von ihm einerseits zum Gedenken an seine Eltern und zum anderen zur Erinnerung an seine eigenen Errungenschaften aufgestellt. Zudem dokumentiert die Runeninschrift dieses Steins die Bekehrung Dänemarks vom nordischen Heidentum zum Christentum im Jahr 965.

Ob Harald "Blauzahn" tatsächlich bläulich gefärbte Zähne im Mund hatte, ist übrigens umstritten. Der Wikingerherrscher ist jedenfalls Namensgeber der Datenübertragungstechnik Bluetooth. Anlass dafür war seine Leistung, mehrere Fürstentümer unter einer dänischen Krone zu einen.

Weitere Thyras

In einer nun im Fachjournal "Antiquity" präsentierten Studie liefert ein Team um Lisbeth Imer vom Dänischen Nationalmuseum eine neue Analyse der zwei Jelling-Runensteine sowie weiterer Steine. Die Ergebnisse könnten das Bild, das man sich von der Rolle der Fürstengemahlin und Königsmutter Thyra bisher gemacht hatte, entscheidend verändern. Frauen mit dem Namen Thyra tauchen auch in den Inschriften von zwei anderen Runensteinen aus der Wikingerzeit auf, allerdings war bisher nicht klar gewesen, ob dort auch jene Thyra der Jelling-Steine gemeint ist.

Für die aktuelle Untersuchung wurden insgesamt sieben Runensteine aus Jütland gescannt. Ziel der Forschungen waren möglicherweise bisher übersehene Details der Runeninschriften – und diese wurden tatsächlich entdeckt: Die Analysen ergaben unter anderem, dass der Text auf dem Steinmonument von Harald "Blauzahn" von derselben Hand stammt wie die Inschrift auf dem Runenstein von Laeborg, der etwa 30 Kilometer südöstlich von Jelling steht.

Der 2,36 Meter hohe Runenstein von Laeborg steht auf einem Friedhof und wurde von dem Runenmeister Ravnunge-Tue geritzt.
Foto: Roberto Fortuna/Dänisches Nationalmuseum

Autor der "Geburtsurkunde" Dänemarks

Auf dem Laeborg-Runenstein nannte sich diese Person Ravnunge-Tue. "Damit kennen die Dänen nun auch den Namen des Handwerkers, der ihre 'Geburtsurkunde' geschaffen hat", sagte Imer. Die Wissenschafterin hatte freilich auch großes Interesse am Inhalt der Inschriften, insbesondere, was Königin Thyra betrifft. Denn dass Frauen in der Wikingerzeit überhaupt auf Runensteinen erwähnt wurden, war schon ungewöhnlich genug.

Die Untersuchung zeigte, dass die Thyra der zwei Jelling-Runensteine dieselbe Person sein dürfte, die auch auf dem Stein von Laeborg erwähnt wird. Dort wird die Frau als "dróttning" bezeichnet. Das nordische Wort bedeutet "Gebieterin" oder "Dame", was später mit "Königin" übersetzt wurde.

Das macht es sehr wahrscheinlich, dass auch mit der auf dem vierten Stein erwähnten Thyra die Mutter von Harald gemeint ist. Dieser als "Bække 1" bekannte Runenstein enthält die Inschrift "Ravnunge-Tue und Fundin und Gnyple, die drei machten den Halt von Thyra". Hinzu kommt, dass Thyra auf dem kleineren der beiden Jelling-Steine als "Dänemarks Rettung" oder "Dänemarks Stärke" bezeichnet wird.

Wichtige Landbesitzerinnen

Zusammengenommen deuten diese Runenhinweise darauf hin, dass Thyra eine Schlüsselfigur im neuen dänischen Reich war. "Vielleicht stellte sie sogar ihren Ehemann Gorm und ihren Sohn Harald an Einfluss in den Schatten", sagte Imer. "Keine andere historische Person im wikingerzeitlichen Dänemark wird auf so vielen Steinen erwähnt, nicht einmal Harald 'Blauzahn', ihr berühmter Sohn. Sie muss also äußerst wichtig für die Gründung des Staates gewesen sein."

Diese Bedeutung ergibt sich auch aus der Tatsache, dass die Runensteine die einzigen schriftlichen Quellen aus dem wikingerzeitlichen Dänemark sind. "Und die Texte darauf sind sehr kurz", so die Forscherin. Dass Thyra also dermaßen viel Platz eingeräumt wird, dürfte eine entsprechende Bedeutung haben, ist das Forschungsteam überzeugt. Diese Befunde decken sich letztlich auch mit archäologischen Quellen, die den Schluss zulassen, dass die Frauen der Wikinger in Dänemark auch selbst Land und damit politische Macht besaßen. (Thomas Bergmayr, 12.10.2023)