Gehirnatlas
Mehrere Forschungsteams haben gemeinsam den bisher genauesten Atlas menschlicher Gehirnzellen vorgestellt.
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Eine Gruppe internationaler Wissenschafter hat den bisher umfangreichsten Zellatlas des menschlichen Gehirns erstellt. Die Kartierung des genetischen, zellulären und strukturellen Aufbaus unseres Denkapparates ermöglicht ein tieferes Verständnis sowohl der Grundlagen von Gehirnfunktionen ebenso wie der Gründe, warum im Gehirn unter Umständen auch Fehlfunktionen auftreten. Die neuen Erkenntnisse ebnen damit auch den Weg für eine neue Generation von präzisen Therapien für Menschen mit psychischen Störungen und anderen Erkrankungen des Gehirns.

Unter anderem gelang es dabei, mehr als 3.000 Typen von Hirnzellen zu unterscheiden. Die Ergebnisse wurden in insgesamt 21 Studien, die Teil der "Brain Initiative" der US-Gesundheitsbehörde NIH sind, nun in den Fachjournalen "Science", "Science Advances" und "Science Translational Medicine" präsentiert.

Drei Millionen Gehirnzellen

Ein Team um Kimberly Siletti vom Karolinska-Institut in Stockholm untersuchte Gewebe aus 14 menschlichen Gehirnen. Es klärte mit einer neuen Methode auf, welche RNA-Sequenzen in den einzelnen Hirnzellen vorhanden sind. RNA (Ribonukleinsäure) dient unter anderem als Überträger der Information aus dem Erbgut, um Proteine herzustellen. Je nach den Aufgaben von Zellen unterscheiden sich die entsprechenden RNA-Sequenzen. Daraus konnten die Forscherinnen und Forscher 3.313 unterschiedliche Typen von Zellen ableiten. Der Datensatz für diese Arbeit umfasste insgesamt mehr als drei Millionen Gehirnzellen.

In zwei weiteren Studien untersuchten ein Team um Yang Li von der University of California und eines um Wei Tian vom Salk Institute for Biological Studies die Epigenetik einzelner Gehirnzellen. Epigenetische Mechanismen bestimmen, wie oft welches Gen in einer Zelle aus dem Erbgut abgerufen wird, was auch von der Umwelt, durch die Ernährung und Alterung beeinflusst wird. Aus diesen drei Studien erstellten die Fachleute einen Hirnzellenatlas, der einzelne Hirnzelltypen charakterisiert und sie verschiedenen Regionen zuordnet. Der neue Gehirnatlas ist für die Wissenschaft frei zugänglich.

Neue Ära der Gehirnforschung

"Dies ist wirklich der Beginn einer neuen Ära in der Gehirnforschung. Nun können wir besser verstehen, wie sich Gehirne entwickeln, wie sie altern und von Krankheiten in Mitleidenschaft gezogen werden", sagte Joseph Ecker vom Salk Institute, der an mehreren der Studien beteiligt war.

Die Aktivitäten für den Hirnzellatlas sind im Projekt BICCN (Brain Initiative Cell Census Network) gebündelt. BICCN erlaubt nun auch, weitere Erkenntnisse über das menschliche Gehirn zu gewinnen. Dazu zählt etwa, wie sich die Gehirne von Menschen von jenen unserer nächsten Verwandten aus dem Tierreich unterscheiden. Das hat unter anderem ein Team um Nikolas Jorstad vom Allen Institute for Brain Science in Seattle getan: Es untersuchte Proben einer Hirnregion, die beim Menschen mit der Gesichtserkennung und mit dem Lesen in Verbindung gebracht wird, von erwachsenen Menschen, Schimpansen, Gorillas, Rhesusaffen und Weißbüschelaffen.

"Nur wenige Hundert Gene zeigten menschenspezifische Muster, was darauf hindeutet, dass relativ wenige zelluläre und molekulare Veränderungen die Hirnrindenstruktur des erwachsenen Menschen eindeutig definieren", fassen Jorstad und Kollegen ihre Erkenntnisse zusammen.

Neue Therapien

Doch es geht den Forscherinnen und Forschern auch um Fortschritte in der Humanmedizin: "Die Kartierung der verschiedenen Zelltypen im Gehirn und das Verständnis ihrer Zusammenarbeit werden uns letztendlich dabei helfen, neue Therapien zu entdecken, die auf einzelne Zelltypen abzielen, die für bestimmte Krankheiten relevant sind", sagt Bing Ren von der University of California. Ren ist der Seniorautor der Studie von Li und Kollegen.

Die Forschenden konnten molekularbiologische Aspekte von 107 verschiedenen Subtypen von Gehirnzellen mit einem breiten Spektrum neuropsychiatrischer Erkrankungen in Verbindung bringen, darunter waren Schizophrenie, bipolare Störung, Alzheimer-Krankheit und schwere Depression.

Glioblastom

Weitere Forschungsarbeiten betrafen die Entwicklung des menschlichen Gehirns vom frühen Embryonalstadium an. Diese Forschung brachte dem Team von Sten Linnarsson vom schwedischen Karolinska-Institut auch Erkenntnisse über das Glioblastom, einen der aggressivsten Hirntumoren. Demnach ähneln die Tumorzellen unreifen Stammzellen, die versuchen, ein Gehirn zu bilden, allerdings auf völlig unorganisierte Weise.

"Wir beobachteten, dass diese Krebszellen Hunderte von Genen aktivierten, die für sie spezifisch sind, und es könnte interessant sein zu untersuchen, ob es ein Potenzial für die Suche nach neuen therapeutischen Zielen gibt", erklärte Linnarsson. (red, APA, 12.10.2023)