Einem interdisziplinären Forschungsteam ist es mithilfe digitaler Bildgebungsverfahren und moderner Untersuchungsmethoden gelungen, ein altes Rätsel zu lösen: Wie sahen die Skulpturen des Parthenon auf der Athener Akropolis aus, als sie vor rund 2.500 Jahren erschaffen wurden? In den letzten Jahren setzte sich die Auffassung durch, dass die damaligen Künstler auch Farben eingesetzt haben könnten. Nun präsentierten Forschende im Fachjournal "Antiquity" Untersuchungsergebnisse, die einen handfesten Beweis für die einstige Farbenpracht des Parthenon liefern.

Der Parthenonfries und andere Skulpturen stellen eine Sammlung verschiedener architektonischer Marmordekorationen dar, die für den Tempel der Athener Stadtgöttin Pallas Athena Parthenos gestaltet wurden. Seit dem frühen 19. Jahrhundert befinden sich diese beeindruckenden Beispiele antiker griechischer Kunstfertigkeit zum großen Teil im British Museum in London, was in den vergangenen Jahren immer wieder zu Kontroversen geführt hat.

Parthenon, Athen
Der Parthenontempel auf der Athener Akropolis zeigt sich heute in blassen Tönen. Als er im fünften vorchristlichen Jahrhundert errichtet wurde, dürfte er deutlich bunter gewesen sein.
Foto: AP/Petros Giannakouris

Irrtum mit Folgen

Seit ihrer Entdeckung haben sich Generationen von Forschenden verschiedener Fachrichtungen mit diesen Kunstwerken auseinandergesetzt und versucht herauszufinden, wie sie wohl zur Zeit ihrer Entstehung ausgesehen haben. Heute zeigen sich die Skulpturen farblos, daher nahm man lange Zeit an, dass sie ursprünglich ebenso schlicht ausgesehen hatten. Ein Irrtum mit Folgen, denn die Annahme führte dazu, dass die wenigen eventuell noch vorhandenen Farbreste bei den Restaurierungsarbeiten der Vergangenheit entfernt wurde, um den Skulpturen ihr vermeintlich helles Aussehen zurückzugeben.

"Die Skulpturen vom Parthenon im British Museum zählen zu den Höhepunkten des antiken Kunstschaffens und werden seit Jahrhunderten von einer Vielzahl von Wissenschaftern untersucht", erklärte Giovanni Verri, Hauptautor der Studie vom Art Institute of Chicago. "Trotzdem wurden bisher keine Farbspuren gefunden. Es ist auch nur wenig darüber bekannt, wie sie hergestellt wurden."

Um diese Fragen zu beantworten, untersuchten Verri und sein Team aus Forschern, Restauratoren, Textilhistorikern und Archäologen vom British Museum und dem King's College London die Marmorkunstwerke mit der sogenannten fotostimulierten Lumineszenzanalyse.

Parthenon, Farben
Neue bildgebende Untersuchungen haben Spuren der ursprünglichen Farbe gefunden, mit der die Parthenon-Skulpturen verziert waren.
Fotos: Trustees of the British Museum

Ägyptisch Blau und andere Pigmente

Mithilfe dieser nichtinvasiven Methode gelang es den Forschenden, mikroskopische Spuren eines Farbpigments namens Ägyptisch Blau nachzuweisen. Die Substanz zählt zu den ältesten künstlich hergestellten Farbpigmenten und besteht unter anderem aus Kalzium, Kohlenstoff, Kupfer und Silizium. Dieses Pigment wurde in Ägypten bereits vor annähernd 5.000 Jahren eingesetzt und war so ziemlich das einzige Blau, das in der Antike in Griechenland und Rom verwendet wurde.

Anhand der Entdeckung konnten die Wissenschafter nachweisen, die Parthenon-Skulpturen ursprünglich mit kunstvollen Blumenmustern auf ihren Gewändern geschmückt waren. Neben Ägyptisch Blau fand das Team auch Spuren von Weiß und Purpur auf den Kunstwerken; besonders Letzteres stellte in der antiken Mittelmeerwelt ein ausgesprochen kostbares Farbpigment dar.

Einheit aus Farbe und Form

Neben den Farbspuren an sich fiel den Forschenden auf, dass die damaligen Künstler offenbar keine besonderen Maßnahmen ergriffen hatten, damit die farbenfrohen Muster auf dem steinernen Untergrund haften blieben. Stattdessen schienen sie sich ausschließlich darauf zu konzentrieren, den entsprechenden Effekt zu erzielen, um etwa Wolle, Leinen oder Haut farblich nachzubilden.

"Auch wenn die Oberflächen nicht explizit für den Farbauftrag vorbereitet wurden, so bildeten doch die äußere Form und die aufgetragene Farbe eine Einheit. Die Parthenon-Künstler hatten das polychrome Endergebnis von vornherein geplant", sagt William Thomas Wootton vom King's College London. "Sie schufen Oberflächen, die ähnliche Texturen aufwiesen wie die realen Entsprechungen der dargestellten Objekte. Es ist wahrscheinlich, dass sich die Maler diese mimetischen Oberflächen zunutzemachten, um die endgültige Wirkung zu erzielen."

Für die Wissenschafter ist damit klar, dass die Parthenon-Skulpturen ursprünglich viel aufwendiger und lebendiger waren als bisher angenommen. Die Studie legt zudem nahe, dass die Farben für die antiken griechischen Künstler von ebensolcher Bedeutung waren wie die Form.

Parthenon, Farben
Auch an Stellen, die nach dem Anbringen der Skulpturen eigentlich nicht sichtbar waren, entdeckte das Forschungsteam Farbspuren.
Fotos: Trustees of the British Museum

Auch auf der Rückseite

"Die eleganten und aufwendigen Gewänder sollten möglicherweise die Macht der olympischen Götter wiedergeben, aber auch den Reichtum und die Bedeutung des damaligen Athen und jener Menschen repräsentieren, die den Tempel in Auftrag gegeben hatten", so Verri. Dass die Farbgebung tatsächlich aus der Zeit ihrer Entstehung stammt, lässt sich alleine schon daran erkennen, dass die Forscher auch auf der Rückseite der Kunstwerke Farbspuren entdeckten – an Stellen also, die nicht mehr zugänglich waren, nachdem man die Skulpturen am Gebäude angebracht hatte. "Wir können nur darüber spekulieren, warum die Rückseite bemalt wurde", sagt Verri.

Eine Erklärung könnte sein, dass die Figuren und Reliefs den Göttern gewidmet waren, die sie – so vielleicht die damalige Annahme – im Gegensatz zu den menschlichen Betrachtern von allen Seiten sehen konnten. Oder aber die Künstler legten im Sinne der Vollständigkeit großen Wert auf solche Details. (Thomas Bergmayr, 15.10.2023)