Jugendliche sehen sich in Kairo einen Dokumentarfilm über den arabisch-israelischen Krieg von 1973 an.
Jugendliche sehen sich in Kairo einen Dokumentarfilm über den arabisch-israelischen Krieg von 1973 an.
APA/AFP/KHALED DESOUKI

Die Historikerin Frédérique Schillo thematisierte in einer viel beachteten Studie aufgrund neuer Archivdokumente das Versagen der israelischen Geheimdienste im Oktober 1973, also vor genau 50 Jahren. Ähnlich wie damals haben Geheimdienst, Armee und Politik den Hamas-Angriff vor einer Woche nicht kommen sehen. Als Folge drohe ein langer Krieg, glaubt Schillo.

STANDARD: Israel wurde von der massiven Attacke der Hamas-Miliz völlig überrumpelt. Hat Sie das erstaunt?

Schillo: Es hat mich insofern erstaunt, als ich dachte, dass Israel die Lehren aus dem Jom-Kippur-Krieg von 1973 gezogen habe: nie mehr den Feind unterschätzen, nie mehr denken, dass uns die Gegenseite für unschlagbar hält; auch kleine Warnsignale ernst nehmen. Jetzt wurden die gleichen Fehler wieder gemacht. Und dies wie 1973 an einem Sabbat, während eines religiösen Festes.

STANDARD: Dabei hätte Ihr Buch über den Jom-Kippur-Krieg – damals griff eine arabische Militärkoalition unter Führung Ägyptens und Syriens überraschend Israel an – der heutigen Militärspitze eine Warnung sein können.

Schillo: Ja, wir hatten die israelischen Archive durchforstet, die 2010 teilweise geöffnet worden waren. Daraus geht klar hervor, dass der Geheimdienst, die Armee Tsahal und die Regierung vorliegende Indizien übersehen oder übergangen hatten. Damals verfügte der Mossad in Kairo sogar über einen Agenten, Ashraf Marwan, Schwiegersohn des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser, sowie einen weiteren ägyptischen Agenten mit dem Codenamen "Goliath". Er informierte die Israelis, doch nahm ihm dies zuerst niemand ab. Später, als der Krieg begonnen hatte, lieferte er weitere Informationen, die es Israel erlaubten, den Jom-Kippur-Krieg noch im Oktober 1973 zu gewinnen. Kurz: Israel verfügte damals über die besten Informationen, wertete sie aber nicht aus.

STANDARD: Ähnlich wie beim jüngsten Hamas-Großangriff?

Schillo: Die israelischen Dienste vertrauten zu stark dem technologisch ausgefeilten Grenzsystem zwischen dem Gazastreifen und Israel. Es galt als unüberwindbar, weshalb auch ganz in der Nähe Kibbuze liegen und eine Rave-Party organisiert wurde. In den letzten Stunden vor dem Angriff mehrten sich zwar die Hinweise. Doch die Armee ist nicht auf Gaza konzentriert, sie ist zu drei Vierteln im Westjordanland stationiert, wo die Regierung Netanjahu Siedler schützen will.

Die Historikerin Frédérique Schillo.
Historikerin Frédérique Schillo: "Gegen eine Terrororganisation wie die Hamas gibt es nur eine militärische Antwort."
Schillo

STANDARD: Haben die Geheimdienstspitzel in Gaza denn nicht über die Massierung von Raketen informiert?

Schillo: Dass die Hamas 30.000 Raketen hat, ist kein Geheimnis. Die Vorbereitungen zum Angriff wurden – wie auch vor dem Jom-Kippur-Krieg 1973 – durch Militärmanöver getarnt. Einige Quellen sagen, Netanjahu sei von ägyptischer Seite informiert worden.

STANDARD: Woher rührt denn diese Unachtsamkeit?

Schillo: Sie reicht weit zurück. 1967 gewann Israel den Sechstagekrieg mit Bodengewinnen, nota bene dem Gazastreifen. Das bewirkte eine Art Euphorie: Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust fühlte sich die junge Nation in Sicherheit. Umso größer war der Schock sechs Jahre später, als Israel vom Angriff Ägyptens und Syriens völlig auf dem falschen Fuß erwischt wurde. Israel entschied den Jom-Kippur-Krieg zwar für sich; doch stellt er ein schweres nationales Trauma dar, weil sich Israel hatte überraschen lassen.

STANDARD: Stürzt Israel heute wieder in eine bodenlose Angst?

Schillo: Absolut. Und zwar mehr denn je: Die aktuelle Situation macht den Israelis mehr zu schaffen als der Jom-Kippur-Krieg vor 50 Jahren. Es war schlicht unvorstellbar, dass Terroristen so leicht nach Israel eindringen, hunderte von Zivilisten auf teils barbarische Weise umbringen und stundenlang ungestört wüten konnten. Das weckt schlimmste Erinnerungen an frühere Pogrome gegen Juden, auch an den Holocaust. Schließlich will der Hamas Israel auch auslöschen.

STANDARD: Wie handelte Ministerpräsident Netanjahu bisher?

Schillo: Er brauchte sechs Stunden, bis er sich an die Nation wandte und fand keine stärkenden oder mitfühlenden Worte. Bis vor kurzem hat kein Regierungsmitglied den Süden Israels aufgesucht! Die dortigen Bewohner fühlen sich hilflos und verlassen, sogar von der Armee. Nur die Zivilbevölkerung sammelt Waren für Kibbuzbewohner, die in den Hausbränden alles verloren haben.

STANDARD: Noch ist der Krieg allerdings nicht vorbei ...

Schillo: Er hat noch nicht einmal begonnen. Vor diesen Bodeneinsätzen fürchten sich die Israelis sehr. Wie 2014 werden sie vielen Soldaten das Leben kosten, wenn sie in der kleinen, dichtbevölkerten Gaza-Enklave Guerilla-Einheiten nachsetzen müssen. Dazu werden die TV-Bilder den Hass auf Israel schüren. Aber gegen eine Terrororganisation wie die Hamas gibt es nur eine militärische Antwort.

STANDARD: Und die israelischen Geiseln?

Schillo: Israel hat dafür die sogenannte Hannibal-Direktive, die festlegt, dass Armeeinheiten versuchen müssen, Geiseln aus den Händen der Hamas zu befreien. Diese Doktrin gilt allerdings für Militärs. Und für Zivilisten? Das ist eine sehr, sehr schwierige Frage.