APG-Vorstandsdirektor Gerhard Christiner in der Steuerzentrale des Unternehmens in Wien-Favoriten vor einer Wand mit Monitoren
Der technische Vorstand der Verbund-Tochter Austrian Power Grid (APG), GerhardChristiner, in der Steuerzentrale des Unternehmens am Johannesberg in Wien-Favoriten: Die Engpässe werden mehr
APG/RicardoHerrgott

Er kennt so gut wie jeden Abschnitt der knapp 7000 Kilometer langen Hochspannungsleitungen in Österreich, und auch die Schwachstellen. Gerhard Christiner ist als technischer Vorstand der Austrian Power Grid (APG) verantwortlich dafür, dass die Stromübertragung klaglos funktioniert. Das werde aber zunehmend schwieriger, sagt er.

STANDARD: Es wird kälter, da und dort wird schon geheizt. Ist das Stromnetz stark genug, um mit der Zusatzbelastung im Winter fertig zu werden?

Christiner: In Summe sind wir sehr gut aufgestellt. Die Gasspeicher und auch die Pumpspeicher sind voll, in Frankreich ist die Verfügbarkeit der Atomkraftwerke im Gegensatz zum Vorjahr sehr hoch. Wenn es ein normaler Winter wird, sollten wir ohne gröbere Probleme durchkommen.

Netze zu schwach

STANDARD: Dennoch müssen Sie als Unternehmen, das für das Funktionieren des Hoch- und Höchstspannungsnetzes verantwortlich ist, immer öfter in den Strommarkt eingreifen, um die Stabilität zu gewährleisten. Warum?

Christiner: Weil die Netze nicht ausreichend dimensioniert sind.

STANDARD: Was ist das Problem? Korrigierend eingreifen musste man früher fallweise doch auch?

Christiner: Den Unterschied macht der Strom aus den vielen Windkraft- und Solaranlagen aus. Das gab es früher nicht. Der Umbau auf der Erzeugungsseite ist viel schneller vor sich gegangen als netzseitig.

APG-Vorstand Gerhard Christiner sitzend vor einer Monitorwand
"Wir schauen, ob sich alles ausgeht oder ob irgendwo eine Überlastung droht": APG-Vorstand Gerhard Christiner.
APG/RicardoHerrgott

STANDARD: Wie erkennen Sie rechtzeitig, dass es ein Problem gibt?

Christiner: Als APG bekommen wir die Informationen über alle Handelsgeschäfte und Kraftwerksfahrpläne vorab und können so den Folgetag im Stundenraster simulieren, national und international, weil wir auch die Datensätze der anderen europäischen Übertragungsnetzbetreiber erhalten. Dann schauen wir, ob sich alles ausgeht oder ob irgendwo eine Überlastung droht.

STANDARD: Wenn ja, was dann?

Christiner: Dann versuchen wir gemeinsam auf europäischer Ebene, die Engpässe zu beheben. Das schafft man national nicht mehr.

"Die Physik schlägt zurück"

STANDARD: Ein Beispiel?

Christiner: Wenn viel und billiger Strom aus erneuerbarer Erzeugung in Deutschland verfügbar ist, wollen alle diesen günstigen Strom kaufen. Das führt zu Überlastungen der Nord-Süd-Leitungen. Behoben wird das Problem dadurch, dass in Österreich Gaskraftwerke hochgefahren und in Deutschland gleichzeitig Erneuerbare abgeriegelt werden.

STANDARD: Die Physik lässt sich nicht austricksen?

Christiner: Die Physik schlägt zurück. Es ist immer das schwächste Glied in der Kette ausschlaggebend. Es muss so lange Redispatch (Notfallmaßnahmen, Anm.) gemacht, also vom marktwirtschaftlichen Kraftwerkseinsatz abgewichen, werden, bis wieder ein stabiler Zustand erreicht ist. Das ist teuer.

STANDARD: Wie teuer?

Christiner: Wir hatten im Vorjahr Redispatch-Kosten von 736 Millionen Euro. Davon haben rund 600 Millionen Euro Stromverbraucher in Deutschland bezahlt. Auf Netzkunden in Österreich sind in Summe 94 Millionen Euro entfallen.

"Ein bisschen wie beim Pokerspiel"

STANDARD: Wie kommt das?

Christiner: Es ein bisschen wie beim Pokerspiel: Wer als Erster die Nerven verliert und ein Kraftwerk abruft, zahlt. Das deutsche Netz ist groß, sie haben öfter Probleme und fragen an, ob wir ein Kraftwerk, das bei uns unter Vertrag steht, hochfahren können. Die Kosten tragen muss immer der Besteller.

STANDARD: Wie sieht es jetzt aus?

Christiner: Im Vorjahr hatten wir viel Redispatch, weil die Preise hoch waren und Deutschland viel exportiert hat, nachdem viele französische AKWs in Revision waren oder wegen Niedrigwassers nicht gekühlt werden konnten. Heuer ist Frankreich wieder stärker im Export tätig, Deutschland importiert mehr und hat weniger Redispatch bei uns abgerufen. Wir hatten aber national mehr Probleme. Bis Ende August sind dabei Kosten von knapp 110 Millionen Euro für Österreichs Netzkunden und -kundinnen angefallen, mehr, als es im Gesamtjahr 2022 war.

STANDARD: Wie oft musste die APG heuer schon intervenieren ?

APG-Vorstand Gerhard Christiner, auf einer Treppe stehend.
APG-Vorstand Gerhard Christiner bemängelt das Fehlen einer Gesamtsystemplanung und adäquate gesetzliche Rahmenbedingungen.
Ricardo Herrgott

Christiner: Von Jänner bis August an insgesamt 169 Tagen.

STANDARD: Es erscheint logisch, dass der Ausbau der Erzeugung synchron mit dem Ausbau der Netze erfolgen muss. Warum passiert das nicht?

Christiner: Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, man hat uns nicht ernst genommen. Es fehlen die Gesamtsystemplanung und die gesetzlichen Rahmenbedingungen bei den Genehmigungsverfahren.

STANDARD: Was heißt das nun?

Christiner: Bis jetzt haben wir vom Erbe unserer Großväter und Großmütter profitiert. Die waren mutig und weitsichtig genug, in Infrastruktur und Netze zu investieren, beides vorausschauend mit großen Reserven. Diese Reserven haben wir ausgereizt bis Gehtnichtmehr. Jetzt wird es unangenehm für alle.

Ausbau statt Symptombehandlung

STANDARD: Inwiefern?

Christiner: Bisher wurden Stromproduzenten entschädigt, wenn sie auf unser Betreiben hin nicht einspeisen durften. Bei den neuen Anlagen ist das nicht mehr der Fall. Sie können zwar ans Netz angeschlossen werden; wenn es aber nicht mehr geht, werden sie eingeschränkt und bekommen kein Geld. Das sorgt für heiße Diskussionen und zeigt, wie groß der Handlungsbedarf ist. Es ergibt keinen Sinn, wenn wir in Ostösterreich Wind und Solar ausbauen, als gäbe es kein Morgen, dann aber keine Möglichkeit haben, den Strom entweder zu den Pumpspeichern in Westösterreich zu bringen, ihn vor Ort zu speichern oder ins Ausland zu bringen.

STANDARD: Ihr Appell?

Christiner: Keine Symptombehandlungen mehr, sondern ein wirksames Gesetzespaket für die Beschleunigung des Netzausbaus. Wenn man die Kosten von rund 100 Millionen Euro pro Jahr in die Netzinfrastruktur investieren würde, hätte man nachhaltig einen Effekt, der Österreichs Netzkunden und -kundinnen entlasten und volkswirtschaftlich wesentlich mehr bringen würde.

(INTERVIEW: Günther Strobl, 16.10.2023)