Der Name Manfred Winkler, in Österreich ein Allerweltsname, klang in den Ohren der Israelis gewiss ein wenig exotisch. Denn für die europäischen Neuankömmlinge im "Land der Väter" war es lange Zeit üblich, einen hebräischen Namen anzunehmen. Aus David Josef Grün wurde ein David Ben-Guroin, aus Ariel Scheinermann ein Ariel Scharon. Und auch Ilana Shmueli hieß noch Liane Schindler, also sie 1944 nach Palästina eingereist ist. Wie Winkler stammt sie aus der Bukowina und hatte Glück, der Judenvernichtung in Europa zu entkommen. Jahrzehnte später sollten sich die beiden in Jerusalem im deutschsprachigen Dichterkreis Lyris wiederfinden.

Ein Produkt Altösterreichs

Als Manfred Winkler 1922 in einem Karpatendorf in der Bukowina geboren wurde, war das ehemalige Kronland bereits Teil Rumäniens. Der intensiv betriebenen Rumänisierung und Zentralisierung zum Trotze zehrte die Region noch einige Jahre von einer Kultur des (relativ) friedlichen Zusammenlebens, wie sie sich in den Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges etabliert hatte.

Porträt von Manfred Winkler
Porträt von Manfred Winkler (Aufnahme circa 1966).
IKGS München

Winklers Familie war ein typisches Produkt jener gerne als "Altösterreich" erinnerten Ära. Sein Vater verdiente als Anwalt gutes Geld. Zuhause sprach man Deutsch, so wie alle Juden in der Region, die sich auf das habsburgische Aufstiegsangebot eingelassen hatten. Jiddisch wurde von den armen Leuten und den frommen Chassidim gesprochen. Für das Hebräische interessierte sich – vorerst eher theoretisch – die wachsende Gruppe der Zionisten. Jedenfalls sollten die Kinder ein noch besseres Leben haben. Darum wurde Sohn Manfred mit vierzehn Jahren nach Czernowitz in die Schule geschickt. In der Hauptstadt der Bukowina, die eine Reihe erstrangiger Schriftsteller hervorgebracht hat, schrieb auch er seine ersten Gedichte.

Deportation und Repatriierung

Wie in ganz Mitteleuropa wurde auch in Rumänien der politische Extremismus und der Antisemitismus immer dominanter. Die Entwicklung mündete im Krieg und in einer sowjetischen Besatzung: Winklers Eltern und sein Bruder wurden 1940 in ihrem Heimatort Putilla verhaftet und deportiert. Der Vater starb 1942 im Norden, die Mutter 1965 in Kasachstan. Manfred, der in Czernowitz lebte, blieb verschont. Als im darauffolgenden Jahr mit Hilfe der deutschen Verbündeten wieder die Rumänen in der Nordbukowina regierten, wurde er in ein transnistrisches Arbeitslager verbracht, das er mit Glück überlebte. 1944 konnte er nach Czernowitz zurückkehren. Die Bukowina aber war fortan geteilt: Während der Süden rumänisch blieb, wurde der Norden mitsamt der alten Kulturmetropole Czernowitz erneut Teil der Sowjetunion.

Juden wie Manfred Winkler wollten die Sowjets loswerden, darum wurde er nach Rumänien "repatriiert". Er landete im Südwesten Rumäniens, im Banat. Doch schien der alte Kontinent, zumal das stalinistische Rumänien, für ihn keine Perspektive mehr bieten. Während er nahezu ein Jahrzehnt auf seine Ausreisegenehmigung nach Israel wartete, arbeitete er in der Industrie und beim Rundfunk in Temeswar. Er veröffentlichte seine ersten Gedichte, wurde Mitglied des rumänischen Schriftstellerverbandes und heiratete seine ebenfalls aus der Bukowina stammende Frau Herma. Die war, drei Jahre älter als er, gerade noch als Österreicherin geboren worden. Ein Umstand, auf den sie ihren "rumänischen" Gatten Manfred auch in späteren Jahren gerne hinwies.

Endlich in Israel

1959 durfte Manfred Winkler endlich nach Israel ausreisen. Seine Frau folgte im Jahr darauf. Die erste Station für ihn war das sozialistisch-zionistisch geführte Kibbuz Beth Alpha. Dort blieb er aber nicht lange. Winkler hatte genug von Sozialismus und Kommunismus. Er begann intensiv Hebräisch zu lernen und bald schon verfasste er seine ersten Gedichte auf Iwrit. Er galt nun als "Sprachwunder", gewann seinen ersten Literaturpreis. Mit dem Preisgeld finanzierte er sein erstes Jahr als Student der hebräischen und jiddischen Literatur, verstand aber – Sprachwunder hin oder her – zu Beginn kaum ein Wort. Später verdiente er sein Brot als Archivar des Jerusalemer Theodor-Herzl-Archivs, das er von 1964 bis 1981 leitete. Er wurde zum Übersetzer und Mitherausgeber von Herzls Werken.

Seine ganze Leidenschaft galt jedoch der Kunst, dem Zeichnen, der Bildhauerei und – vor allem – der Lyrik. Er schrieb auf Hebräisch, bis er sich entschloss, seine Gedichte wieder auf Deutsch zu verfassen. Eine Entscheidung für seine "Sprache des Herzens" – und gegen den großen Ruhm, der für ihn in Israel nur möglich gewesen wäre, wenn er auf Hebräisch geschrieben hätte. Denn alles Deutsche war in Israel verhasst. Nachvollziehbar in einem Land, das sich mit Angehörigen der Überlebensgeneration füllte. Aber ein kaum aufzulösendes Dilemma für alle, deren Muttersprache eine Variante des Deutschen war.

Selbstportrait von Manfred Winkler
Selbstporträt von Manfred Winkler (circa 1991).
IKGS München

Trotzdem habe er in Israel erstmals in seinem Leben "Boden unter den Füßen gefühlt", wird Winkler im lesenswerten, im Jahr 2004 von Dorothee Wahl herausgegebenen Band "Lyris. Deutschsprachige Dichterinnen und Dichter in Israel" erzählen. Aber auch, dass er niemals Zionist gewesen sei. Allein der Holocaust habe ihn ins Land der Väter gebracht – ein Land mit vielen Vätern und Müttern, das war ihm bewusst: "Ich gehöre nicht zu denen die behaupten, dass dies nur unser Land sei. So einfach ist es nicht."

Dichter und Übersetzer

Wenn Winkler schrieb, hatte er gewiss noch das wunderschöne Czernowitzer Deutsch im Ohr. Den altösterreichischen Sound, die aus den Nachbarsprachen übernommenen Verdrehungen in der Syntax und die eigenartigen Vokabeln in der Umgangssprache einerseits. Die bildungsbürgerliche Präzision in den gehobenen Registern andererseits. In seinen Gedichten verfügte er seine erste Heimat, das bukowinische Altösterreich, auf lyrische Weise in seine zweite Heimat, ins "Altneuland" Israel. Als würden ukrainische Huzulen durch die Wüste laufen, während sich Minarette in den Waldkarpaten erheben.

Vergilbtes Papier liegt auf einer weißen Seite, Text:
Aus dem Nachlass Winklers.
Florian Kührer-Wielach

Daneben übersetzte er aus dem Ukrainischen, dem Rumänischen, aber vor allem aus dem Deutschen ins Hebräische, schlug Sprachenbrücken über das Mittelmeer bis in die Mitte Europas. Vor allem Paul Celan, dessen wichtigster Sprachmittler ins Hebräische er wurde, hatte es ihm angetan. 1969 durfte Winkler ihn auf einer Lesereise durch Israel begleiten.

Eine Insel in Jerusalem

Manfred Winkler war aber, trotz späten Familienglücks, manchmal sehr einsam. Seine Dichtung empfand er als innere Notwendigkeit, aber auch als randständig. Im Lyris-Dichterkreis, der sich in den frühen Achtzigerjahren gefunden hatte, konnte er sich endlich mit auf Deutsch schreibenden Gleichgesinnten austauschen. Lyris – Lyrik in Israel, das waren unter anderen die Initiatorin Annemarie Königsberger, gebürtig aus Berlin, oder die schon erwähnte Czernowitzerin Ilana Shmueli, aber auch "Exoten" wie der katholische Priester Wilhelm Bruners oder, später, der deutsche Literaturwissenschaftler und Lyriker Jan Kühne. Etwas mehr als zwei Handvoll Menschen.

Meist lud die 1921 in Wien als Eva Boyko geborene Eva Avi-Yonah ein. Sie war das Herz der Gruppe. Ab 1982 versammelten sich die Dichterinnen und Dichter monatlich um ihre Wiener Torten und unterhielten sich in diesem etwas antiquierten, durch Zeit und Raum herübergeretteten Deutsch: Berlinerisch, Wienerisch, Czernowitzerisch. Manfred Winkler mitten unter ihnen, als dichterischer Kopf der Gruppe.

Das Ende des Dichterkreises

Wie die Dichtertreffen abgelaufen sind, wie sie geklungen und geschmeckt haben, lässt sich im 2008 entstandenen Dokumentarfilm "Der Klang der Worte – Deutsche Sprache in Jerusalem" von Gerhard Schick erahnen. In Gesprächen mit den Angehörigen des Lyris-Kreises schimmert jedoch ein gewisser Pessimismus durch, was die Zukunft Israels betrifft. Nicht nur die dunkle Vergangenheit was stets, wenn oft auch nur latent, in Anspielungen, in ihren Gedichten präsent.

Ilana Shmueli. Deutsche Sprache in Jerusalem - Ein Auszug
Rimbaud Verlag

Vielleicht wollten sich die Angehörigen des Dichterkreises auch deswegen über drei Jahrzehnte lang regelmäßig auf diese alteuropäische Insel aus Torten und Worten flüchten. Auf eine Insel, "die keinen Nachschub mehr bekommt", wie Winkler es ausdrückte. So war es an der aus der Schweiz stammenden Yvonne Livay, den Kreis im Jahr 2017 für aufgelöst zu erklären.

Manfred Winkler war bereits drei Jahre zuvor verstorben. Seit einigen Jahren wird das in viele Sprachen übersetzte Werk des Gerade-nicht-mehr-Altösterreichers auch in Mitteleuropa wahrgenommen. Trotz seines exotischen Allerweltsnamens. Der kommt aus dem Althochdeutschen und bedeutet: Mann des Friedens. (Florian Kührer-Wielach, 19.10.2023)