Der EU-Beitrittskandidat Bosnien und Herzegowina hat eigentlich keine Fortschritte oder Reformen gemacht. Brüssel hat aber ein Interesse daran, Erfolge auf dem Westbalkan vorzuweisen.
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Alljährlich im Oktober veröffentlicht die EU-Kommission die Länderberichte über die Beitrittskandidaten. Diesmal will die Kommission empfehlen, mit dem Kandidatenstaat Bosnien und Herzegowina die Verhandlungen zu beginnen. Offiziell heißt es in Brüssel noch immer, der Prozess beruhe auf Verdiensten. Im Klartext: Nur jene Länder, die wirklich Fortschritte machen, sollen belohnt werden. Doch wer genauer hinsieht, kann leicht erkennen, dass das längst nicht mehr stimmt. Die Regierung von Bosnien und Herzegowina hat nämlich keineswegs Fortschritte oder Reformen vorzuweisen. Im Gegenteil: Die Lage ist äußerst volatil, weil Nationalisten weiterhin den gemeinsamen Staat unterlaufen und ihn zerstören wollen.

Doch die EU-Kommission hat selbst Interesse daran, "Erfolge" auf dem Westbalkan vorweisen zu können. Zentral für Brüssel ist vor allem, dass durch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine der mögliche Beitritt des großen osteuropäischen Staates gemeinsam mit der ebenfalls von Russland bedrohten Republik Moldau in den Vordergrund gerückt ist. Die sechs Aspiranten auf dem westlichen Balkan – Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Albanien und der Kosovo – sind angesichts der geopolitischen Lage noch unwichtiger geworden.

Massive Spannungen

"In Bosnien und Herzegowina haben wir in jüngster Zeit positive Schritte erlebt, wie den raschen Amtsantritt des Ministerrats, die Verabschiedung des Haushaltsplans 2023, die Inbetriebnahme der Europol-Kontaktstelle und die parlamentarische Verabschiedung von Reformen im August und September, einschließlich zur Integrität in der Justiz, zur Folterprävention, zum freien Zugang zu Informationen und zum Ausländerrecht. Es bleibt jedoch noch viel zu tun, und die jüngsten Entwicklungen in der Republika Srpska geben Anlass zu großer Sorge", erklärt die EU-Kommission auf Anfrage des STANDARD.

Was die Kommission nicht verrät, ist, dass es im Ministerrat massive Spannungen gibt. Seitens der liberalen antinationalistischen Koalitionspartei Naša Stranka sagt man offen, dass es nicht so weitergehen kann. Viele Entscheidungen werden nämlich jenseits des Ministerrats zwischen serbischen und kroatischen Nationalisten von der SNSD und der HDZ im Hinterzimmer "ausgemacht" und die anderen Koalitionspartner vor vollendete Tatsachen gestellt.

Theoretischer Erfolg

Auch die Schaffung der Europol-Kontaktstelle als Erfolg darzustellen löst bei Fachleuten Kopfschütteln aus. Serbische Nationalisten, die den Gesamtstaat untergraben wollen und Entscheidungsmacht vorrangig in den beiden Entitäten (Föderation und Republika Srpska) verankert sehen wollen, haben die Europol-Kontaktstelle bisher im gesamtstaatlichen Sicherheitsministerium verhindert. Nun wurde sie zwar offiziell im Sicherheitsministerium eingerichtet und soll Informationen aus 15 nationalen Stellen zusammenführen, doch in der Praxis funktioniert das nicht.

Denn eine zentrale Datenbank wird untergraben. In den zehn Kantonen des Landesteils Föderation werden die Datenkanäle nach wie vor nirgends miteinander verknüpft. Es ist daher nach wie vor nicht möglich, eine landesweite Information direkt zu bekommen. Es gibt auch weiterhin keine zentrale Bearbeitung einer Anfrage, die von einem anderen Staat nach Bosnien und Herzegowina kommt. Die Anfragen müssen nach wie vor an die jeweiligen untergeordneten Stellen gesendet werden. "Die Europol-Kontaktstelle ist nur theoretisch ein Erfolg, de facto hat sie null Kompetenz", sagt ein Insider zum STANDARD.

Auch die Justizreform ist kein Meilenstein. Denn die Inhalte wurden so verwässert, dass die verfolgten Ziele damit nicht erreicht werden. Konkret geht es um den Hohen Rat für die Justiz und Staatsanwaltschaft (HJPC), der die Unabhängigkeit der Justizorgane garantieren soll. In den vergangenen Jahren war der HJPC dafür berüchtigt, dass der Chef der größten extrem nationalistischen bosnisch-serbischen Partei SNSD, Milorad Dodik, versuchte, mit seinen Leuten die Justizorgane in seinem Sinne zu steuern. Von Unabhängigkeit, Transparenz und Rechtsstaatlichkeit konnte nicht die Rede sein.

Ruf nach unabhängiger Justiz

Deshalb wurden immer wieder Reformen gefordert. Denn nur eine unabhängige und starke Justiz könnte Bosnien und Herzegowina zu einem erfolgreichen Staat machen, weil damit die korrupten Praktiken der Parteien und ihrer Netzwerke bekämpft werden könnten, die die Bürger, die Wirtschaft, die Verwaltung und die Institutionen seit Jahrzehnten fest im Griff haben. Ein neues Gesetz zum HJPC gehört deshalb auch zu den 14 Reformprioritäten, die die EU für Bosnien und Herzegowina formulierte, um mit den EU-Verhandlungen beginnen zu können.

Mit dem Gesetz sollte die Vetternwirtschaft und Korruption in der Justiz bekämpft werden. Doch der erste Entwurf, der diesem Ansinnen entsprach, wurde bereits im Mai dieses Jahres verwässert. "Denn der zweite Entwurf machte die Befugnisse des HJPC zur Vermögenskontrolle von Richtern und Staatsanwälten davon abhängig, dass zuvor Absichtserklärungen mit Körperschaften, Kantonen und Bezirksbehörden geschlossen werden", erklärt Bodo Weber vom Democratization and Policy Council.

Die EU, aber auch die USA forderten deshalb eine Rückkehr zum ersten Entwurf, weil die Änderungen der ursprünglichen Abischt des Gesetzesentwurfs widersprachen. Doch die Regierungsparteien taten das mitnichten. Schlimmer noch: "Im August fügten sie dem verwässerten Entwurf vom Mai noch weitere Änderungen hinzu, die die Befugnisse des HJPC zur Vermögenskontrolle noch stärker von Gesetzen und Satzungen auf unterstaatlicher Ebene abhängig machen", so Weber zum STANDARD.

Kehrtwende der EU

Dann jedoch geschah etwas Erstaunliches: Von der EU war plötzlich kein Protest mehr zu hören. "In einer Kehrtwende begrüßte die EU-Delegation in Sarajevo die Annahme dieses Gesetzes", so Weber. "Alle Institutionen in Bosnien und Herzegowina müssen konstruktiv und in gutem Glauben mit dem HJPC zusammenarbeiten, um das Gesetz vollständig umzusetzen und die Wirksamkeit der Integritätsprüfungen sicherzustellen", reagierte die EU-Kommission zur Kritik an der Akzeptanz des verwässerten Gesetzes auf Anfrage des STANDARD. "Die EU ist bereit, die Einrichtung eines solchen Systems zur Überprüfung der Vermögenserklärungen von Richteramtsträgern, einschließlich der Überwachung durch EU-Experten, zu unterstützen."

Weber moniert, dass es mit dem Gesetz nun leider möglich sei, die Vermögenskontrolle zu verschleppen, weil die unteren staatlichen Ebenen den Zugang zu Rechtsakten blockieren können. "Die Autorität des HJPC über die anderen Ebenen wurde ausgehebelt", so Weber. "Sie wurde durch eine schleichende Dezentralisierung ersetzt. Ein loser Bund der Entitäten und Kantone hat im Grunde die Verfassungsordnung ausgehebelt. Und die EU-Delegation in Sarajevo ist bereit, jegliche Standards zu unterschreiten", kritisiert der Bosnien-Experte.

Weber erinnert daran, dass Bosnien und Herzegowina eigentlich alle 14 Prioritäten der EU erfüllen müsste, um mit den Beitrittsverhandlungen beginnen zu können. "In der Substanz wurde nichts für die Beitrittsverhandlungen reformiert", resümiert er. Es handle sich um Schönfärberei. Er kritisiert auch, dass von der von Deutschland versprochenen wertebasierten Außenpolitik nichts zu merken sei. Das Vorgehen der EU und Deutschlands sei "losgelöst von jeglicher Substanz. Statt auf der Erfüllung der 14 Prioritäten zu beharren, eröffnet man Beitrittsverhandlungen", kritisiert Weber.

Fehlendes Vertrauen

Der ungarische EU-Erweiterungskommissar Olivér Várhelyi sagte kürzlich sogar, dass eine EU-Erweiterung bis 2030 möglich sei. Unter den Bürgerinnen und Bürgern in Bosnien und Herzegowina hat die EU viel Vertrauen verspielt. Der Wiener Politologe und Balkanexperte Vedran Džihić verweist darauf, dass der Balkan strategisch und geopolitisch angesichts der Ukraine zweitrangig sei. "Wenn es um den westlichen Balkan geht, dann geht es der EU darum, Zeit zu gewinnen und darauf zu achten, dass nichts explodiert", erklärt er dem STANDARD. Realistischerweise könnten am ehesten Montenegro und Nordmazedonien der EU beitreten.

Angesichts des starken russischen Einflusses in der Region wolle die EU Bosnien und Herzegowina jedoch etwas anbieten, tappe aber selbst weiter im Dunkeln. Unklar sei, wie sich Dodik und der serbische Präsident Aleksandar Vučić künftig verhalten werden. "Weil man das nicht abschätzen kann, wird so getan, als gebe es einen Fortschritt. Die Europäer sagen also, dass man was erreicht habe, aber im Kern hat man nichts erreicht", so Džihić. Das Spiel, das zwischen der EU und den Balkanstaaten ablaufe, fasst er so zusammen: "Wir tun so, als ob wir schneller Richtung Erweiterung unterwegs seien, und ihr tut so, als ob ihr Reformen macht."

Immer wieder war in den letzten Jahren auch davon die Rede, die Balkanstaaten in den Europäischen Binnenmarkt zu integrieren. Das wäre für jeden Staat im Vorfeld eines Vollbeitritts längst möglich. Doch Džihić verweist darauf, dass man für den Beitritt zum Binnenmarkt zwar einige Reformen des Rechtsstaats durchführen müsse, doch das führe noch lang nicht dazu, dass die demokratischen Werte in der Region mehr geachtet, die freien Medien nicht unterdrückt und die Außenpolitik nach Westen orientiert würde.

Für die Bosnierinnen und Bosnier würde mit einem Beitritt zum Binnenmarkt zudem weiter das Gefühl verstärkt werden, dass man den Staat gar nicht wirklich in die EU integrieren will. Viele Bürger und Bürgerinnen befürchten, dass es im Hintergrund um die mehrheitliche muslimische Bevölkerung in Bosnien und Herzegowina geht. Sie glauben, dass es in der EU viele Vorurteile gegen Muslime gibt und man in EU-Staaten deshalb nicht ernsthaft an einer Vollmitgliedschaft interessiert sei. (Adelheid Wölfl, 16.10.2023)