Rund 20 Millionen Kunden, 18.350 Mitarbeiter, 1.100 Filialen, eine Bilanzsumme von 600 Milliarden Hrywnja (16,4 Milliarden Dollar): Die Privatbank ist die mit Abstand größte Bank der Ukraine. Geleitet werden ihre Geschäfte von einem Österreicher. Im Sommer 2021 nahm der Vorarlberger Gerhard Bösch das Angebot an, die im Eigentum des ukrainischen Staates stehende Bank fit für eine Privatisierung zu machen. Nämliche war für nächstes Jahr angestrebt. Wegen der russischen Invasion im gesamten Land wird daraus vorerst nichts.

Seinen Job konnte der 66-Jährige – ein erfahrener Banker, der zuvor unter anderem für die Raiffeisen Zentralbank und Raiffeisen Aval, den ukrainischen Ableger des Giebelkreuz-Konzerns, in leitenden Funktionen tätig war – angesichts der Herausforderungen bisher gut erledigen: Die Bank, die 2016 als Folge eines der größten Bankenskandale der Finanzgeschichte zwangsverstaatlicht werden musste – bis heute sind wegen rund fünfeinhalb Milliarden versickerter Dollar weltweit Gerichtsverfahren anhängig –, ist inzwischen wieder hochprofitabel. Anfang März dieses Jahres schüttete sie eine Milliarde Dollar Dividende aus.

STANDARD: Herr Bösch, wie sieht der berufliche Alltag des Chefs der größten Bank der Ukraine Anfang Herbst 2023 aus?

Als der Vorarlberger Gerhard Bösch Mitte 2021 die Leitung der zwangsverstaatlichten ukrainischen Privatbank übernahm, sollte er sie auf eine Privatisierung bis 2024 vorbereiten.
Als der Vorarlberger Gerhard Bösch Mitte 2021 die Leitung der zwangsverstaatlichten ukrainischen Privatbank übernahm, sollte er sie auf eine Privatisierung bis 2024 vorbereiten.
APA/PRIVATBANK

Bösch: Mein Alltag schaut heute nicht viel anders aus als vor zwei oder drei Jahren. Unsere Büros in Kiew sind ziemlich leer, aber das war schon zu Covid-Zeiten so. Ich bin trotzdem jeden Tag kurz nach acht im Büro. Ich bin jemand, der nicht zu Hause arbeiten kann und will. Als Erstes lese ich die E-Mails, die ein täglich aktualisiertes Bild der Lage geben – ob es irgendwo im Land in einer unserer Filialen eingeschlagen hat, ob es während der Nacht größere oder kleinere Zerstörungen gegeben hat und dergleichen. Letztens sind auf unsere Filialen in Odessa und in Winnyzja wieder Trümmerteile von Drohnen gefallen. In den vergangenen eineinhalb Jahren hatten wir circa 70 bis 75 solcher Vorfälle. Das gilt natürlich nur für die Filialen, die nicht in den Gebieten liegen, die derzeit von Russland besetzt sind. Davon abgesehen wird mein Arbeitsalltag heute nur von den unregelmäßigen Raketenalarmen unterbrochen. Ansonsten herrscht Normalbetrieb.

STANDARD: Was heißt Normalbetrieb für eine Bank in einem Land im Krieg?

Bösch: Normalbetrieb heißt, dass sämtliche Bankomaten und Self-Service-Terminals funktionieren, dass alle regulären Bankdienstleistungen angeboten und neue Produkte entwickelt werden. Abgesehen von den ersten paar Tagen nach dem Beginn der russischen Invasion im gesamten Land, während der quasi alles kurz eingefroren war, haben wir unsere Aktivitäten nicht nur nicht reduziert, sondern sogar ausgeweitet. Mit bisher sehr guten Ergebnissen.

STANDARD: Angesichts der Rahmenbedingungen scheinen ihre Geschäfte gut zu laufen. Wie ist das zu erklären?

Bösch: Wir haben seit Kriegsbeginn insgesamt 1,7 Milliarden Dollar an Dividenden ausgeschüttet. Heute wäre es natürlich weniger, weil die Wechselkurse andere sind, aber Tatsache ist, dass die Bank hochprofitabel ist. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber vor allem anderen liegt es daran, dass von den Hochrisikoszenarien, die wir in der Vorbereitung auf den Krieg entwickelt hatten, keines eintrat. Es gab weder einen großflächigen Ausfall der Telekommunikationssysteme noch einen Ansturm auf die Banken. Die Cyberattacken auf unsere elektronische Infrastruktur waren zwar massiv, aber am Ende lagen sie im Rahmen des Bewältigbaren.

STANDARD: Haben Sie die Reaktionen Ihrer Kundinnen und Kunden überrascht? Das ukrainische Bankensystem stand ja lange Zeit wegen diverser Finanzskandale nicht gerade im besten Ruf.

Bösch: Das heutige Bankensystem wird von den Ukrainern als stabil angesehen, und das völlig zu Recht. Tatsache ist, dass es nie zuvor in einem derart gesunden Zustand war wie vor Beginn des Kriegs. In der Vergangenheit bildeten die Banken traditionell eine der wirtschaftlichen Achillesfersen des Landes, aber die Reformen, die seit 2014 durchgezogen wurden, haben eine enorm positive Entwicklung gezeitigt. Unsere Bank ist dafür das beste Beispiel.

STANDARD: Da heißt genau was? Wie verdient die Privatbank heute ihr Geld?

Bösch: Wir haben rund 20 Millionen aktive Kunden – das sind mehr als die gesamte Raiffeisen-Gruppe außerhalb Österreichs hat, inklusive Russlands. Und die Transaktionen, die sie tätigen, sind heute wieder praktisch so hoch wie vor dem Krieg. Es gibt einen stetigen Zufluss von Einlagen, in allen möglichen Währungen. Dazu kamen massive Investitionen in Staatsanleihen und Liquiditätsüberschüsse bei den Nationalbankzertifikaten. Wir hatten zudem viel weniger Kreditausfälle als erwartet. Als staatliche Bank haben wir die Aufgabe, auch im Krieg die Wirtschaft zu unterstützen, und entsprechend haben wir das Kreditvolumen signifikant ausgeweitet.

STANDARD: Das heißt, der Privatbank geht es … besser als je zuvor? Trotz Kriegs?

Bösch: Mir ist klar, dass das zuerst einmal kontraintuitiv ist. Was soll ich sagen? Ich habe diese Situation selbst nicht erwartet, und sogar im Nachhinein ist es nicht ganz einfach nachzuvollziehen, warum alles derart gut läuft. Wir sind ja bei weitem nicht die einzige Bank in der Ukraine, der es so geht. Selbst die westlichen Mitbewerber, die teils massiv auf der Bremse standen, erzielen heute sehr gute Finanzergebnisse.

STANDARD: Offiziell weist die Privatbank laut den zuletzt von der Nationalbank veröffentlichten Zahlen aber immer noch einen hohen Anteil an sogenannten NPLs (non-performing loans) auf, also Krediten, die nicht bedient werden. Wie geht das mit dem rosigen Bild zusammen, das Sie zeichnen?

Bösch: Dafür gibt es eine einfache Erklärung. Der mit Abstand größte Teil dieser Kreditausfälle – die sogenannten toxischen Kredite – stammt noch aus Forderungen gegen die früheren Eigentümer. Also aus der Ära, in der die Bank verstaatlicht wurde. In der Realität sind die aber längst alle wertberichtigt und haben entsprechend keinen Einfluss mehr auf den Zustand der Bank.

STANDARD: Was die Machenschaften der Ex-Eigentümer der Privatbank angeht, laufen bis heute weltweit dutzende Verfahren. Wie sieht der Stand der Dinge aus betreffend diesen, wie Sie selbst es einmal nannten, "größten Bankraub des Jahrhunderts"?

Bösch: Am weitesten gediehen ist der in puncto Geldvolumen größte Gerichtsfall, der momentan in England verhandelt wird und bei dem wir im Lauf des nächsten Jahres ein Urteil erwarten. Ich habe es jetzt nicht auswendig im Kopf, aber es gibt zahlreiche weitere Verfahren in Zypern, Israel, den USA, in der Schweiz und wahrscheinlich hunderte in der Ukraine selbst.

STANDARD: Glauben Sie, dass die Tatsache, dass der ehemalige Privatbank-Miteigentümer und Oligarch Ihor Kolomoiski heute wegen Betrugsverdachts in der Ukraine in Untersuchungshaft sitzt, die Chancen Ihrer Bank auf Wiedergutmachung erhöht?

Bösch: Ich weiß es nicht, aber ich bitte um Verständnis, dass ich diese Frage nicht umfassend beantworten kann. Wir unterliegen diesbezüglich sehr strengen Auflagen der Anwälte, die uns in England vor Gericht vertreten. Die Richter dort sehen Kommentare zu den Chancen des Verfahrens nicht gern.

STANDARD: Sie arbeiten seit 16 Jahren in der Ukraine. Was sind die Punkte, in denen sich das Bankengeschäft des Landes signifikant von dem in anderen europäischen Ländern unterscheidet?

Bösch: Den immer noch größten Unterschied bildet das makroökonomische Umfeld. Das war in der Ukraine schon vor dem Krieg deutlich unberechenbarer. Die Inflation war in den letzten 20 Jahren immer sehr viel höher als in Westeuropa. Der andere große Unterschied ist natürlich problematischer. Viele ukrainische Banken wurden von Oligarchen gegründet und dienten lange dem Zweck, Geld einzusammeln, um es in ihre Firmen umzuleiten. Da wurden enorme Vermögen – manchmal auf sehr plumpe, manchmal auf bewundernswert kreative Art und Weise – zweckentfremdet. Mit der Zeit hat das natürlich dazu geführt, dass die meisten dieser Institute Probleme bekamen, die sich irgendwann nicht mehr zudecken ließen. Erst im Anschluss an den Euromaidan 2014, als die Nationalbankführung durch Profis ersetzt wurde, hat sich das geändert. Die haben innerhalb von zwei Jahren zwischen 80 und 85 Banken geschlossen. Das war eine sehr wichtige Aktion, praktisch wie symbolisch, und diese Entwicklung ist dann letztlich auch in der Verstaatlichung der Privatbank kulminiert. Heute gibt es keine einzige ukrainische Bank mehr, die wegen ihrer mächtigen Eigentümer über dem Gesetz steht.

STANDARD: Sie haben im Lauf Ihrer Karriere auch für die Raiffeisen Zentralbank und für Raiffeisen Aval gearbeitet, den ukrainischen Ableger des Giebelkreuz-Konzerns. Was wissen Sie über das Russland-Geschäft der RBI, von dem sie sich trotz enormen Drucks von außen offenbar nicht verabschieden will? Und wie sehen Sie es?

Bösch: Ich habe keinerlei Informationen darüber, an welchen Szenarien in Wien gearbeitet wird, was das Russland-Engagement der RBI angeht. An was ich in diesem Zusammenhang denke, sind in erster Linie die tausenden Raiffeisen-Mitarbeiter in der Ukraine. Die sind auf die gleiche Weise vom Krieg betroffen wie die meiner Bank, aber im Gegensatz zu meinen leiden sie enorm darunter, dass die Reputation ihres Arbeitgebers – ohne ihr eigenes Zutun! – einen riesigen Schaden genommen hat.

STANDARD: Und wie sieht es mit dem Ruf Österreichs an sich in der Ukraine aus?

Bösch: Ich fürchte, dass der ähnlich gelitten hat. Was ich persönlich sehr schade finde. Als ich hierherkam, galten Österreicher im Allgemeinen als sehr beliebt. Ich habe mir das damals damit erklärt, dass sie nicht so dominant und schnoddrig auftraten wie viele ihrer westeuropäischen Kollegen. Von den historischen Verbindungen ganz zu schweigen. In der Westukraine weiß noch immer jeder, dass die Eisenbahnstrecke durch die Karpaten und die Tunnels und Brücken von den Österreichern entworfen wurden. Von dieser positiven Grundeinstellung ist leider kaum noch etwas übrig. Null militärische Hilfe, das Klammern an die Neutralität – auch die Schweiz zeichnet sich da nicht gerade aus –, dazu die anhaltende Abhängigkeit von russischem Gas: Man darf sich nicht wundern, dass der Ruf gelinde formuliert schon besser war. Perspektivisch lautet die Frage, inwieweit sich ein Regierungswechsel in Österreich auswirken würde, weil es dann vielleicht gemeinsam mit Ungarn und der Slowakei weitere EU-Hilfen für die Ukraine blockieren könnte. Das wäre dann ein echtes Problem. (Klaus Stimeder aus Odessa, 19.10.2023)