In zahlreichen Armutsstatistiken werden nur private Haushalte erfasst. Obdachlose, illegale Migranten oder Bewohner von Pflegeheimen fallen aus den Erhebungen.

Wien – Wie arm ist Österreich wirklich? Für Christoph Badelt haben politische Debatten über prekäre Lebenslagen hierzulande nur noch wenig mit der realen Welt zu tun. Äußerst schräg würden die Diskussionen darüber geführt, bedauert der Präsident des Fiskalrats und Sozialforscher. "Es geht nur noch darum, politische Gegner anzupatzen."

Vor allem beim Thema Kinderarmut herrsche die Verbreitung pauschaler Vorurteile vor. Statt Probleme gesamtheitlich zu betrachten, würden einzelne Indikatoren herangezogen, um Menschen in Bierzelten aufzuhetzen, ärgert sich Badelt. Die Behauptung etwa, dass in Österreich 316.000 Kinder hungerten, sei falsch. Als Begründung hielten Erhebungen her, mit denen ganz andere Dinge gemessen würden.

Tatsächlich gaben der Statistik der EU-Silc zufolge 78.000 Kinder und Jugendliche im Vorjahr an, sich nicht täglich Fleisch, Fisch oder vergleichbares Vegetarisches leisten zu können. Auch rund 78.000 Kinder, die nichts Vernünftiges zu essen bekämen, seien zu viel. Diese Zahlen aufzublasen führe aber dazu, dass sie der politische Gegner nicht ernst nehme, warnt Badelt.

"Zynische Uminterpretation"

Das Gleiche gelte für die oft getätigten Aussagen, wer nicht arm sein wolle, müsse arbeiten gehen. Klar seien Arbeitslose von Armut stärker betroffen. Daraus zu schließen, dass es keine Armen mehr gäbe, wenn jeder hackeln würde, sei jedoch eine zynische Uminterpretation der empirischen Realität. Vielmehr müsse die Politik hierzulande verhindern, dass Menschen arbeitslos würden.

Badelt, er ist emeritierter Professor am Institut für Sozialpolitik an der Wiener Wirtschaftsuni, hat sich gemeinsam mit seiner WU-Kollegin Karin Heitzmann dem Thema der Messung und wirksamen Bekämpfung von Armut in einer neuen Forschungsarbeit gewidmet. Das Ausmaß von Armut zu schätzen ist aus seiner Sicht nur ein scheinbares statistisches Problem. Vielmehr gehe es um politische Werturteile.

Frage des Maßstabs

Badelt führt Armutsgefährdung ins Treffen. Diese umfasst Haushalte, deren Pro-Kopf-Einkommen geringer ist als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller österreichischen Haushalte, konkret also weniger als 1.392 Euro monatlich beträgt. Nach diesem Maßstab seien etwa auch alle Mindestpensionisten und Mindestpensionistinnen armutsgefährdet, gibt der Sozialexperte zu bedenken.

Der relative Begriff von Armut sei in einer Wohlstandsgesellschaft sinnvoll, wenn es um Fragen der Verteilung gehe. Er sage jedoch nichts darüber aus, wie viele Leute sich kein warmes Essen leisten könnten. Und es müsse einem klar sein, dass bei der Verwendung von relativen Begriffen der Armut diese niemals abgeschafft werde.

Armut habe viele Gesichter, betont Heitzmann. Wege in die Armut und ihre Ursachen seien mittlerweile gut erforscht. In Österreich hänge das Risiko, in eine derartige Abwärtsspirale zu geraten, unter anderem von der Herkunft einer Person ab, von ihrem Erwerbsleben, ihrem Gesundheitszustand und ihrem Bildungsstatus. Es seien in erster Linie strukturelle Benachteiligungen, und diese gehörten gezielt adressiert.

Mehr Prävention

An Geld-, Sach- und Dienstleistungen sieht es Heitzmann nicht mangeln. Diese müssten aber regelmäßig angepasst und ergänzt werden. Nicht immer seien mehr monetäre Mittel der beste Problemlöser aus sozialen Notlagen. Fehle leistbarer Wohnraum, gelte es mehr geförderte Wohnungen zu bauen oder Mieten zu deckeln. Bei einem Manko an Pflegekräften gehöre mit Umschulungen oder entsprechenden Migrationspolitik gegengesteuert. Heitzmann wie Badelt plädieren zum einen für mehr präventive Maßnahmen gegen Armut, zum anderen für eine echte bedarfsorientierte Mindestsicherung.

Ist Armut zuletzt gestiegen? Auch dafür hat Heitzmann keine pauschale Antwort parat. Da sich der Arbeitsmarkt verbesserte, sei die Einkommensarmut stabil geblieben. Angesichts der hohen Inflation sei es für viele Menschen aber subjektiv schwieriger geworden, mit ihrem Einkommen auszukommen. (vk, 17.10.2023)