Für Ginevra Boldrocchi war es ein "perfekter Tag", als sie an einem Novembermorgen mit ihrer Crew aufs Meer hinausfuhr. Die Sicht war ausgezeichnet. Obwohl weit draußen, konnte man die Küsten Sardiniens und Korsikas gut ausmachen. Die See war vollkommen ruhig, ein weiteres Schiff im Umkreis. Plötzlich konnte sie am Horizont die Buckel zweier Pottwale ausmachen. Die Meeressäuger, die Größen von 20 Metern und ein Gewicht von 50 Tonnen erreichen können, gelten als die größten Raubtiere der Erde. Die Tiere können bis zu zwei Stunden unter Wasser bleiben und dabei in Tiefen über 1.000 Meter tauchen, um dort nach Tintenfischen zu jagen. Sie hier, zwischen den Küsten Sardiniens und dem italienischen Festland, bei diesen Bedingungen anzutreffen war ein rares Ereignis.

Das Meeresgebiet, in dem die Meeresökologin und Ökotoxikologin Boldrocchi unterwegs war, ist von der Unterwasserformation des Canyon di Caprera geprägt. Hier, vor der nordöstlichen Küste Sardiniens, öffnet sich der Meeresboden zu einer dutzende Kilometer langen und weit über 1.000 Meter tiefen Schlucht. Die Gewässer rund um den Graben sind bekannt für ihre hohe Biodiversität. Boldrocchi, an der lombardischen Universität Insubrien tätig, kooperiert mit der Stiftung One Ocean Foundation, um die Ökosysteme zu untersuchen und einen adäquaten Schutz der Meere voranzutreiben.

Eine Spezialität des Forschungsteams ist das akustische Monitoring der Meeresbewohner. Spezies und Position des Tieres lassen sich anhand der Daten erkennen.
Rolex/Franck Gazzola

Boldrocchi forscht viel zu Haien an den Küsten Afrikas. In ihrem Projekt zum Canyon di Caprera dreht sich aber alles um verschiedenen Walarten, die sich an diesem Ort tummeln. Denn hier ist das Nahrungsangebot besonders gut. "Unterwasserschluchten erzeugen ein sogenanntes Upwelling-Phänomen", erklärt Boldrocchi. "Bodennahe Unterwasserströmungen kommen dabei an die Oberfläche und führen große Mengen an Nährstoffen mit. Dadurch entstehen Planktonblüten, die die Nahrungsketten antreiben. Deshalb ist die Biodiversität hier besonders interessant."

Versammlung der Wale

Ihr Forschungsteam hat nachgewiesen, dass sieben der acht Walarten, die im Mittelmeer anzutreffen sind, regelmäßige Besucher des Canyon di Caprera sind. Noch eindrucksvoller als der Pottwal ist hier wohl nur der Finnwal. Er ist nach dem Blauwal das zweitgrößte Säugetier der Welt und kann noch einmal um ein paar Meter größer und einige Tonnen schwerer als der Pottwal werden. Der Finnwal taucht dafür aber weniger tief und lange. Boldrocchi erzählt, dass ihr Forschungsschiff einmal mitten in eine Gruppe von drei dieser Ozeanriesen geriet. Die Crew schaltete den Motor ab und konnte die Säuger eine ganze Stunde lang beobachten.

Neben dem Finnwal und dem Pottwal tauchen etwa der Cuvier-Schnabelwal und einige Delfinarten – Delfine gehören zur Unterordnung der Zahnwale – immer wieder am Canyon di Caprera auf. Einzig die Grindwale, sonst eigentlich keine Rarität im Mittelmeer, konnten hier nicht nachgewiesen werden.

Die Entnahme von Wasserproben, etwa für Umwelt-DNA-Analysen, gehört für Meeresökologin Ginevra Boldrocchi und ihr Team zum täglichen Geschäft.
Rolex/Franck Gazzola

Lauschende Bojen

Das Forschungsteam um Boldrocchi versucht mit einer Reihe von Methoden, den Walen auf die Spur zu kommen. Auf der Hand liegt eine visuelle Beobachtung und Zählung von Tieren, der allerdings an vielen Tagen die stürmischen Winde und hoher Wellengang entgegenstehen. Akustisches Monitoring ist eine weitere Art, Daten zu sammeln. Dafür greift man auf spezielle Bojen zurück, die in 800 Metern Tiefe verankert werden und dort kontinuierlich drei Monate lang die Unterwasser-Geräuschkulisse aufnehmen.

Anhand der Aufnahmen können nicht nur unterschiedliche Spezies identifiziert werden, die mit akustischen Signalen kommunizieren. Durch das Miteinbeziehen mehrerer Bojenstandorte lässt sich zudem auch die Position des Wals eruieren, der einen Gesang anstimmt. Zusätzlich werden bei jeder Ausfahrt weitere Akustikdaten aufgenommen – einfach indem vom Schiff aus Unterwassermikrofone, sogenannte Hydrophone, genutzt werden.

Mithilfe der Audioaufnahmen können die Forschenden die Spezies und die Position der Meeressäuger identifizieren.
Rolex/Franck Gazzola

Eine der besten Datenquellen ist die Analyse von Proben auf Umwelt-DNA. Spuren von Erbmaterial aus zurückgelassenen Körperzellen können zum Teil tagelang nach der Anwesenheit einer Spezies im Wasser nachgewiesen werden. Anhand der Daten konnten etwa nicht nur die Walarten identifiziert werden, sondern überraschenderweise auch Mönchsrobben, die im Mittelmeer stark vom Aussterben bedroht sind. "Erstmals seit langem konnten wir die Mönchsrobben am Canyon di Caprera nachweisen. Es war zudem nicht nur ein einzelnes Signal, sondern der Nachweis gelang wiederholt mehrere Monate hintereinander und in mehreren Arealen", freut sich Boldrocchi. Als Nächstes wollen die Forschenden herausfinden, ob die Population ganzjährig oder vielleicht nur saisonal anwesend ist.

Dem Schnabelwal auf der Spur

Ein anderes erstaunliches Ergebnis betrifft den Cuvier-Schnabelwal, der wie der Pottwal in über 1.000 Meter Tiefe nach Tintenfischen taucht und immer nur kurz an die Oberfläche kommt. "Interessant war die Erkenntnis, dass die Tiere jeden Herbst ihr Verhalten ändern und nahe an die Küste kommen", erklärt die Meeresökologin. "Wir wissen nicht, warum. Vielleicht folgen sie ihren Beutetieren dorthin. Nächstes Jahr wollen wir in einer Studie mehr darüber herausfinden."

Sediment auf einem Sieb mit Pipette
Anhand von Sediment und Plankton bestimmen die Forschenden den Zustand des Wassers im Gebiet.
Rolex/Franck Gazzola

Die starke Nutzung durch Fischerei und Tourismus, die laschen Umweltgesetze vieler Anrainerstaaten, aber auch der abgeschlossene Charakter, der eine größere Durchmischung des Meerwassers unterbindet, sorgen dafür, dass das Mittelmeer ein stark verschmutztes Gewässer ist. In ihrer Arbeit als Ökotoxikologin kann Boldrocchi etwa anhand von Plankton, das als Indikator für die Verschmutzung benutzt werden kann, Umweltgifte nachweisen, die bereits seit den 1970ern verboten sind. Die Lärmbelastung durch Schiffe ist ein Problem, mehr noch Kunststoffmüll, der sich in den Organismen ansammelt. Das kann so weit führen, dass Pottwale, deren Magen voller Plastik ist, kein Hungergefühl mehr verspüren und verenden.

Das Ziel ist nun, die besondere Biodiversität am Canyon di Caprera wirksam zu schützen. Das kann etwa durch die Identifikation von "Umbrella"-Spezies geschehen, deren Schutz man durchsetzen kann, wovon dann das gesamte Ökosystem profitiert. In einer ihrer Anekdoten zu besonderen Sichtungen beschreibt Boldrocchi, wie sie an einem glücklichen Tag eine riesige Delfinschar von etwa 200 Tieren, über ein Dutzend Unechte Karettschildkröten sowie einige Teufelsrochen beobachten konnte. Ein strenges Meeresschutzgebiet am Canyon di Caprera könnte bewirken, dass solche Tage öfter und für mehr Menschen erlebbar werden. (Alois Pumhösel, 20.10.2023)