Eine Polizistin und ein Polizist mit Waffen gehen in einen Hauseingang in der Brüsseler Gemeinde Schaerbeek.
Der mutmaßliche Attentäter von Brüssel wurde in der Gemeinde Schaerbeek Dienstagfrüh auf der Flucht von der Polizei angeschossen und starb kurz danach.
REUTERS/YVES HERMAN

Die letzten der 35.000 Fans verließen das König-Baudouin-Stadion in Brüssel gegen vier Uhr in der Früh. Die Fußballanhänger mussten in der Arena ausharren, nachdem Montagabend kurz nach 19 Uhr ein bewaffneter Mann fünf Kilometer vom Stadion entfernt im Norden der belgischen Hauptstadt zwei Schweden erschossen und eine weitere schwedische Person verletzt hatte. Das EM-Qualifikationsspiel war in der Halbzeit abgebrochen worden. Der mutmaßliche Täter wurde am Dienstag bei seiner Verhaftung von der Polizei angeschossen und ist kurz darauf verstorben.

Am Dienstagabend bekannte sich die Extremisten-Gruppierung Islamischer Staat (IS) zu dem Anschlag. Einer ihrer Kämpfer habe die Tat verübt, teilte der IS über seinen Kanal auf dem Messengerdienst Telegram mit.

Kriminell und kein Asyl

Der 45-jährige Tunesier habe, sagte der belgische Justizminister Vincent van Quickenborne, 2019 einen Asylantrag gestellt, der aber negativ beschieden wurde. Er war der Polizei im Zusammenhang mit Menschenhandel, illegalem Aufenthalt und Gefährdung der Staatssicherheit aufgefallen. Bereits 2016 wurden von einer ausländischen Polizeibehörde unbestätigte Informationen über den Mann übermittelt, wonach er ein radikalisiertes Profil habe und in ein Konfliktgebiet in den Jihad ziehen wolle. Darüber hinaus habe es laut dem Minister aber keine konkreten Hinweise auf eine Radikalisierung gegeben.

Wie am Dienstagabend bekannt wurde, saß der Mann vor rund zehn Jahren sogar schon in einem schwedischen Gefängnis ein. Er sei damals teilweise unter falscher Identität in Europa herumgereist, sagte der operative Chef der schwedischen Sicherheitspolizei, Fredrik Hallström, dem Sender SVT. Laut der schwedischen Einwanderungsbehörde befand sich der Tunesier zwischen 2012 und 2014 in Schweden. Nach Verbüßung seiner Haftstrafe sei der Mann in ein anderes EU-Land weitergereist, so der Sprecher der Einwanderungsbehörde. Warum der Mann in Schweden inhaftiert war, wollte keine der befragten Personen sagen. Davor hatte es geheißen, der Mann sei der schwedischen Polizei nicht bekannt gewesen.

Die für Terrorismus zuständige Bundesstaatsanwaltschaft hält die schwedische Staatsbürgerschaft der Opfer für ein mögliches Tatmotiv. Mehrere Koran-Verbrennungen dort hatten zu heftigen und teils gewalttätigen Protesten in islamischen Ländern geführt. Schwedens Regierung hat die Verbrennungen verurteilt, im August wurde die zweithöchste Terrorwarnstufe aktiviert. Am Dienstagabend wurde die Terrorstufe für Brüssel wieder gesenkt, von der höchsten auf die zweithöchste. Man gehe derzeit nicht von einem Netzwerk, sondern einem Einzeltäter aus, teilte Premierminister Alexander De Croo mit.

Verfassungsschutz in Österreich analysiert ständig

In Österreich werde das Attentat in Brüssel natürlich in die ständige Analyse der nationalen Sicherheits- und Bedrohungslage durch die Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) einfließen, hieß es am Dienstag auf STANDARD-Anfrage aus dem Innenministerium, immer in Abstimmung mit ausländischen Sicherheitsbehörden.

Auf die und deren Erkenntnisse sei Österreich auch stark angewiesen, sagt Terrorismusexperte Nicolas Stockhammer im STANDARD-Gespräch: "Wir leben derzeit stark von den Warnungen befreundeter Dienste, weil wir nicht genug rechtliche Möglichkeiten haben, zum Beispiel Zugriff auf die Messenger-Dienste von Verdächtigen."

Nicolas Stockhammer
Terrorexperte Nicolas Stockhammer leitet an der Donau-Uni Krems einen Uni-Lehrgang, der sich mit Terrorbekämpfung und Prävention beschäftigt.
Martina Berger

Die Bedrohungslage in Österreich nennt Stockhammer "derzeit abstrakt", wenngleich klar sei: "Wir sind keine Insel der Seligen. Es gilt Vorsicht walten zu lassen." In Europa sieht er eine "angespannte Lage, denn es gibt eine direkte Proportionalität zwischen dem, was gerade in Israel passiert, und der terroristischen Gefährdungslage in Europa." Zwar habe die Hamas als Organisation "nicht diese Attraktivitätswirkung in der jihadistischen Szene, die der ‚Islamische Staat‘ mit seiner globalen Agenda hat, aber sie ist ein beflügelnder, stimulierender Faktor", sagt Stockhammer, der an der Donau-Uni Krems das Masterstudium "Counter-Terrorism, CVE & Intelligence" leitet, das sich mit Terrorismusbekämpfung, Prävention und Geheimdiensten beschäftigt.

McJihadisten mit Vorbild IS in Afghanistan

Das, was bis jetzt über den Fall in Brüssel bekannt ist, zeigt für den Terrorexperten typische Muster von islamistischen Anschlägen im Namen des vom IS propagierten "Leaderless Jihad", oder wie Stockhammer das Terrormodell mit regionalen Ablegern, die autonom operieren, nennt: McJihad: Man habe einen "selbstradikalisierten Attentäter mit einer Verbindung von Kriminalität und Islamismus", Fachleute sprechen von "Crime-Terror-Nexus", und einen abgelehnten Asylantrag – "immer wieder ein Thema", sagt Stockhammer, der "Nachahmungstaten und eine Zuspitzung der terroristischen Lage in Europa" befürchtet.

Die "Anlasser" oder "Durchlauferhitzer" für Anschläge können unterschiedlich sein. Die Hamas-Attacken auf Israel oder Koran-Verbrennungen in Schweden – aber die wichtigste Terrorreferenz sei nach wie vor der IS, vor allem in Afghanistan, das "als Erfolgsgeschichte verkauft wird, weil es dort gelungen sei, die ,Ungläubigen‘ aus dem Land zu vertreiben". (Lisa Nimmervoll, APA, red, 17.10.2023)