US-Präsident Joe Biden beim Verlassen der Air Force One.
US-Präsident Joe Biden ist derzeit noch umtriebiger als sonst. Die Gründe für seine Reisediplomatie sind ernst wie selten. Am Mittwoch wird er in Israel erwartet.
AFP/ANDREW CABALLERO-REYNOLDS

Es war die wohl düsterste und entschlossenste Rede, die Joe Biden in seiner bisherigen Amtszeit gehalten hat. Am Dienstag der vergangenen Woche trat der US-Präsident im State Dining Room des Weißen Hauses vor einem Gemälde von Abraham Lincoln ans Rednerpult und sagte: "Es gibt Momente im Leben, wenn das pure, rohe Böse auf die Welt losgelassen wird. Das Volk von Israel hat an diesem Wochenende so einen Moment durchlebt."

Zehn Minuten lang versicherte Biden dem von einem barbarischen Terrorangriff der islamistischen Hamas heimgesuchten Land die Solidarität der USA und berichtete von seinem Telefonat mit Israels Premierminister Benjamin Netanjahu, dem er gesagt habe: "Wenn den Vereinigten Staaten dasselbe passieren würde, was Israel erfahren hat, wäre unsere Reaktion schnell, entschlossen und überwältigend." Es klang wie ein Persilschein für jede Art der Vergeltung.

Scholz bei Netanjahu

An diesem Mittwoch nun wird Biden nach Israel reisen, wo am Dienstag bereits Deutschlands Kanzler Olaf Scholz mit Netanhjahu zusammentraf und Unterstützung zusagte: "Unsere aus dem Holocaust erwachsene Verantwortung, macht es zu unserer Aufgabe, für die Existenz und die Sicherheit des Staates Israel einzustehen." Mit dem Holocaust, dieser "Grausamkeit", verglich auch Netanjahu selbst in einem Statement die Aktionen der Hamas. "Die Sicherheit Israels und seiner Bürgerinnen und Bürger ist deutsche Staatsräson", betonte Scholz.

Zurück zu Biden: Es wird ein physisch, aber mehr noch politisch hochgefährlicher Blitzbesuch werden. Gerade einmal fünf Stunden dürfte der US-Präsident in Tel Aviv sein. Offiziell geht es um ein eindrucksvolles Zeichen der Unterstützung. Zugleich aber sorgt sich die Biden-Regierung wegen der humanitären Folgen der israelischen Militäroperationen im Gazastreifen und will eine regionale Ausweitung des Konflikts mit einem möglichen Eingreifen des Iran unbedingt vermeiden.

Für Palästinenserpräsident Mahmud Abbas war die Grenze des Erträglichen offenbar am Dienstagabend schon erreicht: Er sagte ein geplantes Treffen mit Biden unter Hinweis auf einen Luftangriff auf einen Krankenhaus-Komplex im Zentrum von Gaza-Stadt ab. Dabei waren Berichten zufolge hunderte Menschen getötet worden. Israel sprach von einer fehlgeleiteten Rakete des Islamischen Jihad.

Auch Blinken unterwegs

Schon werden in Washington und auch in Bidens Partei die Stimmen lauter, die befürchten, dass eine mögliche Bodenoffensive der Israelis ohne klares Ziel mit einem moralischen und strategischen Fiasko enden könnte.

Seit Tagen ist US-Außenminister Antony Blinken in der Region im diplomatischen Dauereinsatz. Vordringlich geht es der US-Regierung gerade darum, den Zugang der palästinensischen Zivilbevölkerung zu Wasser sicherzustellen, Hilfslieferungen in den Küstenstreifen zu bringen und Fluchtmöglichkeiten über den ägyptischen Grenzposten Rafah zu eröffnen. Darum sollte es eigentlich auch bei einem geplanten Gespräch Bidens am selben Tag mit Ägyptens Präsident Abdelfattah al-Sisi in Jordaniens Hauptstadt Amman gehen - bevor es wegen des Krankenhaus-Angriffs abgesagt wurde.

Rein praktisch hat Biden mit seinem Besuch den Palästinensern und den Hilfsorganisationen etwas Zeit gekauft. Beobachter gehen davon aus, dass die Israelis während seiner Anwesenheit keine Invasion des Gazastreifens beginnen werden. Fraglich ist hingegen, ob er den ultrarechten Netanjahu, zu dem er wegen dessen Attacken auf die Gewaltenteilung und der aggressiven Siedlerpolitik ein angespanntes Verhältnis hat, zur Mäßigung beim Vergeltungsschlag mahnen wird.

Bislang hat Biden jeden öffentlichen Appell zur Zurückhaltung vermieden. In einem TV-Interview am Sonntag formulierte er allenfalls eine sehr indirekte Mahnung: Er sei "zuversichtlich", dass Israel die Regeln des Völkerrechts einhalten werde. Allerdings betonte Biden unmissverständlich, er würde es für "einen großen Fehler" halten, wenn Israel den 2005 geräumten Gazastreifen erneut besetzen sollte. "Es muss eine palästinensische Verwaltung und einen Weg zu einem palästinensischen Staat geben", sagte er.

Regeln und Normen

Daheim in den USA kann sich Biden noch auf die mehrheitliche Zustimmung der Bevölkerung zur Unterstützung Israels verlassen. Allerdings könnte sich das ändern, wenn in den nächsten Tagen und Wochen der Horror der Hamas-Attacken vom 7. Oktober zunehmend von bedrückenden Bildern getöteter Zivilisten im Gazastreifen verdrängt wird. "Israel kann nur gewinnen, wenn es die Regeln und Normen hochhält, die die Hamas so schamlos verachtet", mahnte die New York Times in einem Leitartikel.

Deutliche Unruhe gibt es beim linken Flügel der Demokraten, der sich teilweise mit den Palästinensern solidarisch erklärt. "Ganze Familien werden ausgelöscht, während Präsident Biden, Außenminister Blinken und die Mehrheit des Kongresses nicht einmal die Notwendigkeit der Deeskalation oder der Ermöglichung eines Waffenstillstands erwähnen", kritisierte etwa die Abgeordnete Rashida Tlaib, Tochter palästinensischer Einwanderer.

Doch auch renommierte Wissenschafter und Publizisten hegen Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer möglichen Gaza-Invasion. So warnte der bekannte Buchautor George Packer in der Zeitschrift The Atlantic vor einer Wiederholung der Fehler nach den Terroranschlägen vom 11. September, auf die die USA mit den Kriegen in Afghanistan und im Irak überreagierten. Die Biden-Regierung müsse Israel von einem "desaströsen Fehler" abhalten, forderte der Politikwissenschafter Marc Lynch in der Zeitschrift Foreign Affairs. Mit der Invasion drohe ein "Fiasko". (Karl Doemens aus Washington, 17.10.2023)