Wenn man wissen will, wie die Zukunft des Journalismus im Zeitalter der künstlichen Intelligenz aussehen wird, sollte man vorab dreierlei bedenken: Erstens den Kontext, auf den diese Technologie fällt. Zweitens, dass beim Aufkommen neuer Trägermedien die Medien zwar erst einmal die Form der vorangegangenen imitieren, wie das PDF ein Blatt Papier, dass aber mittlerweile eine ganze Generation ohne Papier aufgewachsen ist. Und drittens Amara’s Law, das lautet: Kurzfristig überschätzen wir die Auswirkungen von Technologie, aber langfristig unterschätzen wir sie.

Boris Eldagsen wurde bei den renommierten Sony World Photography Awards 2023 ausgezeichnet. Er lehnte ab – er hatte das Bild gänzlich mit KI generiert.
Preisverdächtig:Der Fotograf Boris Eldagsen wurde bei den renommierten Sony World Photography Awards 2023 für dieses Foto ausgezeichnet. Er lehnte ab – er hatte das Bild gänzlich mit KI generiert.
Bild-Prompt: Boris Eldagsen

Kontext zuerst: Mit den Medien, der Industrie, die den Journalismus unterhält, steht es katastrophal.

Seitdem ich im Frühling die Medien verlassen habe, um mit KI zu arbeiten, fühle ich mich, als würde ich langsam aus einer Depression aufwachen. Oder als wäre ich aus einem Katastrophengebiet entkommen. Die letzten 15 Jahre habe ich den Kollaps der Medienbetriebe in Redaktionen und als freier Autor in der deutschsprachigen Zone und aus der Zusammenarbeit mit Kollegen in den USA, Großbritannien, Frankreich und Italien aus allererster Hand erlebt. Ich arbeitete für das Vorzeigemagazin des größten Medienhauses des reichsten Landes der Welt. Uns wurden zuerst die Mülleimer gestrichen, dann das Sekretariat, die Arbeitstische, die Telefone und irgendwann sogar das Büro an sich. Ich hatte als Scheinselbstständiger strenggenommen keinen Arbeitsplatz, doch war, wie man mir oft erklärte, einer der Glücklichen. Um mich herum verschwanden Menschen, leerten sich ganze Stockwerke. Ich erlebte es so: Mein Aufstieg hatte mich zum Heck der Titanic geführt.

Die Presse erlebt seit 25 Jahren einen Weltuntergang. Der Grund ist schnell erzählt, er heißt Internet. Davor waren Medien ein traumhaftes Geschäft. Die Verleger (so heißen seltsamerweise die Leute, denen die Medien gehören) hatten einerseits die gesellschaftlichen Eliten im Würgegriff, plus sie verdienten mit Verkäufen, Abonnements und vor allem Werbung. Journalisten verdienten gut. Heute wirbt man auf Google oder Instagram; fast niemand kauft Zeitungen, weil es online so viel gratis gibt; und die wenigsten haben Online-Abonnements.

Mittlerweile bleibt der Nachwuchs aus. Vor allem die, die anderswo Karriere machen könnten, und jene, die nicht mit ausreichendem Erbe geboren wurden, um einen brotlosen Job machen zu können. Kürzlich gestand mir ein Dozent der renommiertesten deutschsprachigen Journalistenschulen, man finde kaum mehr geeignete Bewerber.

Kontext 2: Neben der Industrie, die den Journalismus trägt, verfällt derzeit auch sein Geist.

Die Presse, der Name sagt es, ist eine Industrie, geboren aus der Druckerpresse. Einer Maschine, die die Kosten für die Vervielfältigung gleichartiger Informationen gegen null treibt. Mit diesen günstigen gleichförmigen Informationen versorgte die Presse in der gleichgetakteten Industriegesellschaft des späten 19. und des 20. Jahrhunderts den Mainstream. Es gab Mainstream-News für eine Mainstreamgesellschaft, die in ihren Lebensrhythmen und -entwürfen war wie homogenisierte Milch. Man erwischte die Menschen auf dem Arbeitsweg, dem Heimweg und in der Freizeit, es gab die Morgenpost, die Abend- und die Wochenendzeitungen. Und so kam es auch, dass die Presse einen ziemlich gleichartigen Blick auf die Welt entwickelte: Im Verlauf der jahrhundertelangen Entwicklung der Zeitungen hatte sich nach den Börsenblättern und den Parteizeitungen nämlich das Modell des primär werbefinanzierten Generalanzeigers durchgesetzt, der – um die Reichweite für die Werbekunden zu maximieren – politische Positionierung mied.

Man sparte sich die Meinung und gewann Publikum. Die journalistische Objektivität wurde aus ökonomischem Kalkül geboren. Doch die Mainstreamgesellschaft gibt es nicht mehr. Die Diversifizierung der Lebensentwürfe, die flexiblen Arbeitszeiten und Orte, die auf Social Media erlebbaren materiellen Unterschiede und verschiedenen Lebensentwürfe, die Gewöhnung an die Personalisierung im Netz lösten die Gleichförmigkeit und die Gleichzeitigkeit und damit die innere Logik der Medien auf. Die Covid-Pandemie war wie ein letzter Schlag für diese gleichgeschaltete Welt.

Zahlreiche Skandale erschütterten in letzter Zeit den Journalismus, und das ist kein Zufall. Im Journalismus bleibt eine desillusionierte, zunehmend geschlossene und zunehmend homogene Gruppe, die in bigotten Verhältnissen um ihr Überleben kämpft. Wenn auf dem Rettungsboot die Nahrung ausgeht, wird Kannibalismus legitim.

In diese Situation treten nun die vor sich hinquasselnden Large-Language-Models ein. Was KI-Textmaschinen leisten, ist sehr einfach erklärt: Sie berechnen auf Basis von Millionen gescannten Textproben, welches Wort oder Satzzeichen wohl als Nächstes kommt. Deswegen sagt man auch nicht, dass sie Texte verfassen, sondern "generieren". Ihre Texte sind nichts Auktoriales, sondern etwas Stochastisches – und daher "generisch". Die Schreibfähigkeit auf passablem Niveau ist neu, und viele der um ihr Überleben kämpfenden Journalisten erleben KI nun als Bedrohung.

Doch in Wahrheit beruht Journalismus heute bereits auf KI. Eine ganze Generation von Journalisten ist komplett geprägt von künstlicher Intelligenz. Gemeint ist nicht, dass rund achtzig Prozent aller Medienhäuser KI-Projekte gestartet haben, wie soeben die zweite große Studie LSE zum Stand der KI-Nutzung im Journalismus weltweit verkündete, nein, sondern der Alltag. Jede Google-Suche nutzt KI, die Textkorrektur, die automatische Transkription von Interviews und Aufzeichnungen ist KI; die schnellen Übersetzungen auf Deepl, die Suchmaschinenoptimierung der Titelgebung für Onlineausgaben. Und am allermeisten natürlich Social Media. KI ist der Kern von sozialen Netzwerken. Die Algorithmen, die auswählen, was wir zu sehen bekommen, die Treiber der Personalisierung, sind lernende Algorithmen – künstliche Intelligenz. KI beflügelt und beendet Karrieren. Journalisten streben nach Viralität – und immer wieder enden sie in Shitstorms.

Kontext 3: Die Kernfähigkeit der Journalisten und Journalistinnen ist durch KI nicht bedroht.

Nun aber liefert KI im letzten Schritt das Schreiben an sich. Viele Journalisten glorifizieren das Schreiben. Wer ihnen das Schreiben abnimmt, kann nur ihr Tod sein. Und so, aber andersrum, sehen das auch Verleger. Sie würden gerne Kostenquellen aus ihren Bilanzen streichen und durch willenlose Schreibprogramme ersetzen.

Aber das macht keinen Sinn. Denn bei Information geht es vielmehr um den Absender als die Sprachqualität. Es geht darum, wer etwas sagt und wer etwas sieht. In der Beobachtung und der Auswahl der relevanten Informationen liegt die Kernfähigkeit der Journalisten. Sie müssen mitbekommen und erkennen, was wichtig ist, und das weitergeben. Das Verfassen von Inhalten, das Schreiben, ist nur einer der notwendigen Schritte zur Vermittlung der Informationen.

Der Schriftsteller Ernest Hemingway beispielsweise arbeitete lange als Reporter. In seinen Memoiren beschreibt der Journalist Sefton Delmer, der Hemingway begleitete, wie Hemingway für die New York Times aus dem Spanischen Bürgerkrieg berichtete: Er rief die Redaktion an und berichtete, was er vor Ort sah. Die Redaktion erstellte daraus einen Text, gab ihm einen Titel und gab Hemingway als Autor, als Quelle der Information, an. Aber den Text verfasst hatte er nicht. Wenn Hemingway literarisch sein wollte, schrieb er Bücher. Seine journalistische Leistung bestand in der Wahrnehmung vor Ort. Die Redaktion war sein Textprogramm, das nach journalistischen Kriterien aus seinen Inputs Inhalte formte.

Wer die Wichtigkeit dieser Form der Autorschaft für den Journalismus versteht, kann eine Zukunft des Journalismus erkennen, die anders, größer und hinsichtlich der Informationsabdeckung vielleicht sogar besser ist.

So wie KI es mittlerweile ermöglicht, bei Videocalls in anderen Sprachen zu sprechen, werden künftig auch Nichtjournalisten journalistisch berichten. KI hat die Kosten massiv gesenkt, von der Recherche über die Texterstellung und die Faktenprüfung bis zur zielgerichteten Zustellung der Information an die richtigen Empfänger. Das bedeutet, Menschen werden journalistisch aktiv werden, die zurzeit völlig ausgeschlossen sind von der Presse. Im Social-Media-Zeitalter konnten Menschen etwas sagen. Nun kann KI dabei helfen, was und wie sie posten. Dabei wird es zweitens ziemlich egal sein, ob die Inhalte Texte, Audio oder Video sind, weil sich mit KI das eine in das andere leicht übersetzen lässt.

Die digitale Presse, die sich noch an die geschriebene Form der gedruckten Medien anlehnt, ist formal überholt. Medien werden anders aussehen. Vor allem ihre Struktur. Denn hier wird die neue Rolle für die Medien liegen, in der Herstellung einer neuen gemeinsamen Perspektive. Einer Perspektive gleich einem Insektenauge, welches einen Vorgang aus vielen Blickwinkeln betrachtet. Einem Blick auf Vorgänge, der umfassender ist als heute. Der seinen Informationsgehalt und seine Bedeutung für die Vergesellschaftung daraus zieht, dass er die Subjektivitäten sinnvoll zusammenführt. Es wäre ein neuer Journalismus, und er wird langsam kommen. Wir werden ihn als Wandel erleben und nicht als Bruch. (Hannes Grassegger, 23.10.2023)