Sonnenuntergang am Meer
Urinieren mit Blick aufs Meer ist nicht verboten.
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Es war spät, und er musste mal, also. So simpel trug es sich in der Nacht vom 30. auf den 31. Juli 2022 in Travemünde an der Ostsee im schönen Schleswig-Holstein zu. Also trat ein Mann gegen 0.36 Uhr am Strand ans Meer und erleichterte sich mit Blick gen Horizont.

Dabei wurde er allerdings von drei Mitarbeitern des Ordnungsamtes erwischt. Und wer sich nun fragt, was diese um die Uhrzeit am Strand machen, dem sei erklärt: Das Ganze geschah während der "Travemünder Woche", einer Art Oktoberfest des Nordens, wo auch reichlich Alkohol fließt.

Die Stadt Travemünde warf dem Mann vor, "am Spülsaum der Ostsee mit dem Rücken zum Strand stehend in Richtung Wasser uriniert zu haben" (wie es auf Amtsdeutsch heißt), und verhängte also gegen den Mann wegen Belästigung der Allgemeinheit ein Bußgeld in Höhe von 60 Euro. Das wollte der zunächst Erleichterte und dann wieder Beschwerte nicht auf sich sitzen lassen und zog vor Gericht. Und da hat er nun recht bekommen – mit einem Urteil, das schmunzeln lässt.

Abstand zu den Freunden gehalten

Vor dem Amtsgericht Lübeck argumentierte der Mann, er sei am Strand alleine gewesen und habe niemanden belästigt, sogar zu seinen am Strand sitzenden Freunden habe er 20 Meter Abstand gehalten. Spaziergänger und Spaziergängerinnen seien nicht zu sehen gewesen.

Das fand Richter Felix Spangenberg nicht verwerflich, zumal sich auch durch die Vernehmung der Zeugen des Ordnungsamtes kein Hinweis ergeben hatte, "dass die Verrichtung des Betroffenen nach Art, Ort und Umständen zu Belästigungen geeignet gewesen wäre", wie es im Urteil heißt. Und "am Spülsaum" hatte sich auch niemand über den Wildpinkler beschwert. Zudem seien die Mitarbeiter des Ordnungsamtes auch nicht gleich, quasi wegen Gefahr im Verzug, eingeschritten, sondern "haben der Angelegenheit ihren Lauf gelassen, bis der Betroffene seine Bekleidung wieder gerichtet und sich ihnen zugewandt hatte".

Das Gericht merkte außerdem an, dass bei Männern in öffentlichen Pissoirs "auch das gesellige Wasserlassen" stattfinde und dieser Vorgang "tendenziell eher nicht schambehaftet" sei. Außerdem dulde man das öffentliche Urinieren auch bei "Arbeiten in Feld und Flur, bei Jägern und Pilzesammlern, Radsportlern und Radtourlern, Badenden an Seen und Flüssen und bei sonstigen naturnahen Beschäftigungen". Dass es am Meer keine Möglichkeiten zur diskreten Verrichtung gebe, könne "dem Betroffenen dabei nicht zum Nachteil gereichen".

Gleiche Rechte wie das Reh oder der Hase

Doch es kommt noch schöner. Denn Richter Spangenberg wird in einer weiteren Erklärung, warum der Wildpinkler nicht belangt werden dürfe, geradezu poetisch: "Der Mensch hat unter den Weiten des Himmelszeltes nicht mindere Rechte als das Reh im Wald, der Hase auf dem Feld oder die Robbe im Spülsaum der Ostsee."

Ein bisschen Nachhilfe gibt's auch noch: "Die Ostsee enthält eine Wassermenge von 21.631 Kubikkilometern Brackwasser. Der Verdünnungsgrad wäre selbst im Wiederholungs- oder Nachahmungsfall so hoch, dass eine belästigende Verschmutzung oder Geruchsbeeinträchtigung ausgeschlossen ist." Der Betroffene wurde also freigesprochen, die Kosten des Verfahrens trägt der Staat. (Birgit Baumann aus Berlin, 18.10.2023)