"Eine Lüge hat mein Leben gerettet", sagt die 64-jährige Alina Safarjan dem STANDARD. Sie ist aus Bergkarabach geflohen, nach Armenien. Zu ihren Füßen liegen zwei Bündel mit ein paar Habseligkeiten. Warum keinen Koffer? "Weil wir nirgendwo hinwollten. In meinem Reisekoffer passte mein Leben nicht, ich musste es in Bettdecken wickeln."

In ihrem Heimatdorf seien plötzlich aserbaidschanische Soldaten aufgetaucht und hätten drei alte Männer erschossen, erzählt sie. Alina Safarjan rettete sich mit einer erfundenen Geschichte. "Ich konnte die Soldaten davon überzeugen, dass ich Aserbaidschanerin sei, verheiratet mit einem Armenier, der vor langer Zeit gestorben war." Diese Geschichte habe sie den Soldaten auf Aserbaidschanisch erzählt. Aufgewachsen sei sie in einem Waisenhaus in Schuscha, das damals zu Aserbaidschan gehörte. Und sie habe als eines von drei armenischen Kindern Aserbaidschanisch gelernt. Noch in der Nacht konnte Alina Safarjan fliehen.

Das war Ende September. Alina Safarjan ist einer von über 100.000 Flüchtlingen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden. In einem 24-Stunden-Krieg, der angesichts der Spannungen in Nahost längst vergessen ist.

Jahrzehntelanger Konflikt

Seit Jahrzehnten streiten die beiden Ex-Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach. "Republik Arzach" nennen die Armenier das kleine Stück Land, das mehrheitlich von Armeniern bewohnt ist. 1991 hatte sich Bergkarabach für unabhängig erklärt. Doch international wurde dies nie anerkannt. Anfang der 1990er-Jahre eroberte Armenien in einem blutigen Krieg weite Teile der Region, nicht nur die "Republik Arzach". 2020 holte sich das hochgerüstete Aserbaidschan sein Staatsgebiet zurück. Wiederum tausende Tote, Flüchtlinge. Doch die Zukunft der "Republik Arzach" blieb offen.

Flüchtlinge aus Bergkarabach.
Flüchtlinge aus Bergkarabach.
REUTERS/David Ghahramanyan/File Photo

Jetzt ging Aserbaidschan erneut in die Offensive. Denn mit dem Ukrainekrieg hatte sich die weltpolitische Lage geändert. Russland, Armeniens Schutzmacht, braucht nun Aserbaidschan, will Handelswege in Richtung Iran aufbauen. Russland braucht auch die Türkei, die Schutzmacht Aserbaidschans. Die Sanktionen des Westens trägt das Nato-Land nicht mit. Über die Türkei kommen sanktionierte Waren nach Russland. Und die EU? Auch sie umschmeichelt Aserbaidschan, von dort kommt Gas, das aus Russland nicht mehr importiert wird. Weder von Russland noch vom Westen war Widerstand zu erwarten.

Am 19. September dann der Angriff. Der Krieg, als "Antiterroroperation" bezeichnet, dauert nur einen Tag. Die Karabach-Kämpfer hatten der überlegenen Armee Aserbaidschans nichts entgegenzusetzen, kapitulierten, mussten ihre Waffen abgeben. 200 Menschen wurden getötet, mehr als 400 verletzt. " Per Dekret verkündete die selbsternannte Regierung von Bergkarabach das Ende der "Republik Arzach" mit Jänner 2024.

Viele Flüchtlinge

Nun sind die Straßen und Plätze von Goris, der armenischen Grenzstadt zu Aserbaidschan, überfüllt mit Habseligkeiten der Flüchtlinge aus Bergkarabach. Riesigen Taschen liegen herum, in Decken und Bettwäsche eingewickelter Hausrat. In der Nähe sitzen schweigend Frauen und blicken mit leeren Augen in die Ferne. Freiwillige versuchen zu helfen, bringen Essen. "Es gab Chaos in Stepanakert, der Hauptstadt von Bergkarabach, die Leute hatten Angst zu bleiben", erzählt ein Busfahrer dem STANDARD. "Wir fuhren den ganzen Weg schweigend. So eine schwere Fahrt hatte ich noch nie."

Vor dem Kulturhaus der Kleinstadt Vayk, einem anderen Hotspot der Flüchtlingskrise, etwa 140 Kilometer von der Hauptstadt Eriwan entfernt, versammeln sich die Geflohenen, besprechen mögliche Unterbringungsmöglichkeiten und versuchen, zu Verwandten in der Nähe zu kommen. Hinter einem Zelt, in dem Freiwillige der evangelischen Kirche aus Eriwan Essen vorbereiten, ist Kindergeschrei zu hören. Die kleine Eva wurde kurz vor der Flucht geboren, eine Frühgeburt, sagt ihre Mutter Marina, wegen der Entbehrungen. 38 Stunden hätte die Fahrt aus Bergkarabach hierher gedauert. Normalerweise baucht man für die Strecke zwei Stunden. "Meine Tochter ist stark", so Marina. Eva ist ihr achtes Kind.

Die Geschichten der Menschen aus Bergkarabach. Sie erzählen sie zögernd, stockend. Ararat Tananjan wurde in Aserbaidschan geboren, ist aber ethnisch Armenier. Bis 1990 habe er in Baku gelebt, erzählt er dem STANDARD. Als nach dem Ende der Sowjetunion die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan zunahmen, floh er nach Stepanakert. Nun die nächste Flucht. "Wir hatten in den letzten Tagen Chaos, die Behörden konnten die Situation nicht vollständig kontrollieren. Jetzt werden sie wohl in die Stadt Berd gehen, die an der Grenze zu Aserbaidschan liegt und mehrmals beschossen wurde. „Ich weiß nicht, wie es sein wird", sagt er.

Nwer Manukjan (48), seine Frau Mira Michailova (37) und die sechsjährige Tochter Schamiram stammen aus dem Dorf Atherk. Ein großes, reiches Dorf mit viel Landwirtschaft. Vor allem Beeren hat Nwer angebaut, was ihm ein gutes Einkommen brachte. Nwers Sohn kämpfte gegen die aserbaidschanischen Truppen, eine ganze Woche lang hatte sein Vater nichts von ihm gehört. Dann rief er an, er sei mit anderen Soldaten nach Armenien gebracht worden. Wahrscheinlich werde er Vertragssoldat in der armenischen Armee werden. Leute wie er, mit Kampferfahrung, würden gebraucht. Nwer Manukjan selbst will bei Verwandten in einem Dorf in den Ararat-Tälern leben. Und weiter als Bauer arbeiten.

"Ethnische Säuberung"

Armenien hat Aserbaidschan inzwischen vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag "ethnische Säuberung" in der Region Bergkarabach vorgeworfen. "Vor weniger als neun Monaten stand ich auf diesem Podium und warnte, dass Aserbaidschan einen Plan zur ethnischen Säuberung Bergkarabachs von allen Armeniern auf den Weg bringt", sagte der armenische Vertreter Jegische Kirakosjan in einer Anhörung. Dies sei nun Wirklichkeit geworden. Er forderte die Richter auf, sicherzustellen, dass Baku keine "Maßnahmen ergreift, die zur Vertreibung der verbliebenen ethnischen Armenier führen oder die sichere und rasche Rückkehr" der Flüchtlinge verhindern.

Während Ilham Alijew, Aserbaischans Präsident, in der Karabach-Hauptstadt Stepanakert die Staatsflagge hisst, appelliert Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan vor dem Europaparlament an die internationale Gemeinschaft. "Der Südkaukasus braucht Frieden. Kein Land kann im Frieden sein, wenn nicht die gesamte Region im Frieden ist. Das ist meine politische Kernaufgabe.“ Es würde ein baldiges Treffen mit Alijew geben, so Paschinjan. "Die Wahrscheinlichkeit, dass in zwei bis drei Monaten ein Friedensvertrag unterzeichnet wird, liegt bei 70 Prozent." Armenien sei bereit, noch offene Fragen wie die Einrichtung von Transportkorridoren durch das Territorium des jeweils anderen Staats zu klären.

Ob der angestrebte Frieden von Dauer sein wird? Aserbaidschan sichert das zu. Doch die Politikwissenschafterin Cindy Wittke vom Leibniz-Institut für Ost- und Süd­ost­europa­forschung ist skeptisch. "Wenn man Alijew zuhört – und ich glaube, das sollte man genauso tun, wie man Wladimir Putin vor 2022 hätte aufmerksam zuhören sollen –, dann gibt es gute Gründe, hier tatsächlich um die territoriale Integrität des armenischen Staates besorgt zu sein."

Mit der Vertreibung aus Bergkarabach jedenfalls wollen sich die Armenier nicht abfinden. "Es wird nicht möglich sein, Karabach in Aserbaidschan zu integrieren. Auch wenn es symbolische, internationale Sicherheitsgarantien gibt, selbst dann würden die Karabach-Armenier nicht zurückkehren. 2020 hatten sie auf die russischen Friedenstruppen vertraut, dass sie dort leben könnten. Unter dem Schutz Russlands. Jetzt sind sie vollkommen enttäuscht", so der Publizist Boris Navasardyan in Eriwan gegenüber dem STANDARD.

Enttäuscht ist auch der 76-jährige Ararat Tananjan. "Wir haben drei Tage auf dem Hauptplatz von Stepanakert auf Busse gewartet, hatten Angst zu gehen, um sie nicht zu verpassen, obwohl wir in Stepanakert lebten", berichtet er von seiner Flucht. Mit seiner Frau Jasmin und seiner Tochter Elina ist er in Vayk angekommen. Krieg kennen sie alle zu Genüge, auch seine beiden anderen Töchter. Sie leben in Charkiw, in der Ukraine. (Jo Angerer aus Eriwan, 21.10.2023)