Wo liegt die Zukunft des STANDARD zwischen künstlicher Intelligenz (KI) und einem übermächtigen ORF, zwischen Paywalls und den digitalen Werberiesen Alphabet, Google, Amazon und Tiktok? In der Mischung aus Journalismus und der Beteiligung der Userinnen und User, sagt STANDARD-Vorstand Alexander Mitteräcker. Mit mehr als 55.000 zahlenden Digitalabos sieht er den STANDARD am weitesten in der Transformation unter Österreichs Medienhäusern.

Alexander Mitteräcker, Alleinvorstand des STANDARD
Alexander Mitteräcker, Alleinvorstand des STANDARD.
Mafalda Rakos

STANDARD: Der Journalismuskollektivvertrag gekündigt, Kosten- und Personalkürzungen vor allem im privaten Mediensektor, einzelne Medien vor der Einstellung: Wie geht es der Medienbranche in Österreich?

Mitteräcker: Man muss sich vergegenwärtigen, dass in Österreich alles etwas verspätet passiert, nach dem alten Satz: "Wenn die Welt untergeht, dann fahr ich nach Wien, da passiert alles zehn Jahre später." Wir erleben etwas Erwartbares, und viele andere Länder sind da schon weiter. Und doch ist, was in Österreich passiert, besonders. Ich war gerade bei einer internationalen Verlegerkonferenz, und ein Kollege hat mich tatsächlich als Ärmsten in der Runde bedauert.

STANDARD: Weil?

Mitteräcker: Die öffentlich-rechtlichen Anstalten haben überall ihre Betätigungsfelder abseits von Fernsehen und Radio ausgeweitet und sind mit Gebührengeld in der Domäne der Zeitungsbranche aktiv. Aber in Österreich haben sie durchschlagenden Erfolg gehabt, mit dreimal so großer Onlinereichweite wie der größte Private. Das gibt es sonst nirgendwo. Und unser Markt ist klein. Da wird es in Österreich schon sehr knapp, und wenn der Öffentlich-Rechtliche so viel von diesem Markt für sich vereinnahmt, bleibt nicht mehr ausreichend übrig für private Medien.

STANDARD: Wie sollte ein öffentlich-rechtliches Medium aufgestellt sein?

Mitteräcker: Die Bevölkerung braucht eine Wahlmöglichkeit, ob sie dieses Angebot erhalten will oder nicht. Ich entnehme unseren Foren, dass eigentlich niemand mit der Umstellung auf eine verpflichtende Haushaltsabgabe zufrieden ist. Keiner und keine versteht, warum man für die x-te Wiederholung von Malcolm mittendrin zahlen soll. Warum muss ich für etwas zahlen, das ich nicht konsumiere? Das hat sich überholt. Und der oft gebrachte Vergleich mit öffentlich bereitgestellter Infrastruktur wie Autobahnen hinkt: Es gibt im Medienbereich private Alternativen.

STANDARD: Im zitierten Satz, dass in Wien alles später passiert als anderswo, geht es um den Weltuntergang. Geht die Medienwelt gerade unter?

Mitteräcker: Es gibt Länder, in denen es Medienhäuser geschafft haben, für sich ein funktionierendes Modell zu entwickeln. Aber diese Entwicklung ist mit einer deutlichen Marktkonzentration einhergegangen. In unserem Umfeld ist mit einer Marktkonzentration zu rechnen. Die österreichische Medienpolitik hat bisher eine solche Marktbereinigung mit ihren Inseratenbuchungen verhindert. Ihretwegen gibt es Player im Markt, die sonst wohl nicht überlebt hätten. Das macht das Ganze noch schwieriger.

STANDARD: Auf wen spielen Sie an?

Mitteräcker: International ist nachgewiesen, dass Gratiszeitungen eigentlich nicht mehr funktionieren, schon gar nicht zwei in derselben Stadt. Hier haben Interventionen der Politik die Entwicklung verzögert, was nicht gut für die Marktteilnehmer war.

STANDARD: Sie hätten eine frühere Marktbereinigung gut gefunden?

Mitteräcker: Jetzt kommen alle Faktoren zusammen: der bekannte Umstand, dass die digitalen Riesen den wesentlichsten Teil der Werbebuchungen abziehen. Neue, drastisch erweiterte Möglichkeiten für den öffentlich-rechtlichen Player mit einer neuen, breiteren Finanzierung. Die Marktverzerrung durch die Inseratenpolitik. Und eine Wirtschaftskrise, die uns alle trifft.

STANDARD: Nach Norwegen pilgern Verleger und Verlegerinnen aus aller Welt. Was ist die norwegische Lösung?

Mitteräcker: Die norwegischen Medien hatten gewisse Probleme schon früher. Die Zustellung der gedruckten Zeitung ist in einem dünn besiedelten Land rascher ein Problem. Also mussten sie schneller ins Digitale wechseln. Das ist aus unserer Perspektive wie eine Zeitreise in die Zukunft. Es ist ein kleiner Markt, vergleichbar mit unserem. Mit einigen Vorteilen allerdings: Norwegen hat einen deutlich abgegrenzteren Sprachraum. Sie sind nicht in der EU und haben viele Einschränkungen durch Datenschutz nicht. Das erleichtert auch ihr Werbemodell mit deutlich liberalerem Umgang mit Daten als in Österreich.

STANDARD: Das bedeutet: Werbe-Targeting bis ins kleinste Detail?

Mitteräcker: Sie haben Daten, die wahrscheinlich selbst Google vor Neid erblassen ließen. Das können wir in Österreich nicht. Aber es ist auch erstaunlich, mit welcher Effizienz norwegische Medienhäuser arbeiten. Sie überlegen sich Prozesse und Abläufe, die weit weniger personalintensiv sind als bei uns. Das ist ein wesentlicher Punkt.

STANDARD: Wie weit kann man Journalismus automatisieren? Künstliche Intelligenz ist ein wesentliches Thema in praktisch allen Medienhäusern, verbunden mit der Frage: Wie viel journalistische Man- und Womanpower kann man einsparen?

Mitteräcker: Das ist das wesentliche Thema in unserer Branche, und man kann sicher sehr vieles automatisieren. Aber die Frage ist: Was will man automatisieren? Und die viel größere Frage ist: Wie schaut unsere Medienlandschaft in Zukunft aus? Wir reden hauptsächlich über die Automatisierung von Arbeitsprozessen – und sollten eigentlich über die Produkte der Zukunft reden, die mit KI möglich werden. Wir reden heute darüber: Wie kann unser bestehendes Produkt besser, effizienter, schneller produziert werden. Aber gleichzeitig finden Entwicklungen statt, die unsere ganze Produktlandschaft auf den Kopf stellen werden, ähnlich wie das Internet die klassischen Mediengattungen infrage gestellt hat. Es wird sich alles noch einmal beschleunigen.

STANDARD: Wohin geht diese Produktentwicklung?

Mitteräcker: Ich fürchte, dass die Tech-Player noch mehr übernehmen werden. Jetzt beobachten wir, dass KI-Crawler auf unseren Angeboten unterwegs sind. Es ist vermutlich abzusehen, dass die Firmen dahinter, die gerade unsere Inhalte abgreifen, uns Produkte verkaufen wollen, die auf den Infos basieren, die sie bei uns abgesaugt haben. Wir werden sehen, wie das in einem zukünftigen Ökosystem aussieht und ob nicht die Geräte- und Betriebssystemhersteller die Präsentation der Nachrichten noch weiter als bisher übernehmen. Da wird sich zeigen: Sind die Medienmarken ausreichend stark, um gegen Marken von Google und Apple bestehen zu können? Mediennutzung hat viel mit Vertrauen zu tun. Diesen beiden Marken vertrauen wir bereits jetzt alles an.

STANDARD: Was bedeutet das für den STANDARD in, sagen wir, den nächsten fünf Jahren?

Mitteräcker: Die große Frage ist: Wird das Vertrauen in die Marke STANDARD, was Nachrichten betrifft, größer sein als in eine Marke wie Google oder Apple, und können wir konkurrenzfähige Angebote betreiben? Das müssen wir erreichen.

STANDARD: Wie schafft man das?

Mitteräcker: Entweder wir steigen mit den Tech-Playern in den Ring, was KI betrifft. Oder wir spezialisieren uns auf die Elemente, für die es tatsächlich Menschen braucht, um hochwertige Information zu liefern. Ich glaube, in unserem Fall muss es Letzteres sein.

STANDARD: Wie spielen wir Information in fünf oder zehn Jahren aus?

Mitteräcker: Da traue ich mir keine Prognose zu. Ich werde mir keinen Stecker implementieren lassen, keinen Neuralink.

STANDARD: Warum drucken wir noch Zeitungen, wenn Druck und Vertrieb so schwierig sind?

Mitteräcker: Das ist ganz klar: Es gibt einen großen Bedarf am Markt nach gedruckten Zeitungen. Es ist nach wie vor ein sehr gefragtes Produkt, und ich hoffe, das bleibt noch lange so. Wir haben ein Mischmodell. Keine Mediengattung allein würde unseren redaktionellen Aufwand abdecken. In der Kombination von allen Mediengattungen funktioniert das. Print hat einen wesentlichen Teil. Würde uns Print wegbrechen, wäre es ungünstig.

STANDARD: Wie ist das Verhältnis der Einnahmen?

Mitteräcker: Ziemlich ausgeglichen zwischen Print und Online.

STANDARD: Zentrales Branchenthema ist: Digitale Userinnen und User müssen für qualitätvolle journalistische Angebote zahlen. Nun ist der STANDARD – bis auf den ORF – das einzige größere News-Angebot, das ohne Paywall funktioniert. Warum?

Mitteräcker: Der ORF ist das größte Onlineangebot und wird keine Paywall haben. Dem müssen wir Rechnung tragen. Aber DER STANDARD hat mehr digitale zahlende Abonnentinnen und Abonnenten als die meisten, vielleicht sogar als alle österreichischen Medienhäuser. Wir haben nur eine andere Strategie gewählt und keine Paywall. Wir haben das PUR-Abo erfunden …

STANDARD: … also werbe- und trackingfreie Nutzung der Seite.

Mitteräcker: Das Modell wird im ganzen europäischen Markt nachgeahmt, weil es eine sehr sinnvolle Lösung für die Rahmenbedingungen der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) bietet und offenkundig einen Kundennutzen erfüllt. Wir haben Supporter-Beiträge als freiwillige Unterstützung. Das E-Paper ist ein wesentlicher Teil der digitalen Pay-Strategie. Alles zusammengerechnet liegen wir schon bei über 55.000 Digitalabonnentinnen und Digitalabonnenten. Intensivere Digitalnutzer müssen sich bei derStandard.at anmelden – auch da sind wir weiter als viele andere österreichische Angebote. Und wir starteten gerade das STANDARD-Smart-Abo, wo wir bestimmte Inhalte und Services kostenpflichtig machen.

STANDARD: Wofür zahlt man?

Mitteräcker: Smart-Abonnentinnen und -Abonnenten erhalten einen exklusiven Wissensvorsprung zu einem wöchentlich ausgewählten Thema aus Politik, Wissenschaft, Technologie und vielem mehr. Unter "Im Fokus" können Userinnen und User diese Inhalte als E-Mail-Newsletter und in einem speziellen Bereich auf derStandard.at sowie in der App nutzen. Darüber hinaus gibt es Zugriff auf unsere Rätsel und Sudokus. Wie beim PUR-Abo können unsere Onlineangebote werbe- und trackingfrei genutzt werden. Wir wollen in Zukunft mit weiteren exklusiven Funktionalitäten zusätzlichen Mehrwert schaffen und das Nutzungsergebnis verbessern, inhaltlich und technisch.

STANDARD: Also keine Paywall?

Mitteräcker: Soweit ich aus dem österreichischen Markt höre, sind die Erfolge der Paywalls ernüchternd. Werbeeinnahmen und User-Revenue auszubalancieren ist die wirkliche Herausforderung. Durch die Kleinheit des österreichischen Markts können wir nicht allein auf User-Revenue setzen. Wir experimentieren weiter mit exklusiven Inhalten, Vergebühren der täglichen Berichterstattung ist nicht geplant.

STANDARD: DER STANDARD hat eine deutsche .de-Domain. Sind eigene redaktionelle Inhalte ein Thema?

Mitteräcker: Nein. Das ist eine gängige Falle in der Verlagsbranche: Um mehr Abos zu verkaufen, weitet man das Angebot immer weiter aus. Und damit läuft man mit den Kosten in neue Schwierigkeiten hinein. Man kann sich damit auch übernehmen, höre ich von anderen Häusern. derStandard.de ist ein wirkliches Langzeitprojekt. Wir versuchen festzustellen, wie mit bestehenden Inhalten relevanter Traffic in Deutschland generiert werden kann, den wir momentan vor allem über den Weg der Werbevermarktung monetarisieren. Und wir hoffen auf eine wiederkehrende, treue Userbasis. Der Erfolg von derStandard.de bemisst sich über Jahre.

STANDARD: Geht DER STANDARD in eine Phase der Fokussierung – wenn man nicht von Sparpaketen sprechen will?

Mitteräcker: Das findet immer statt. Wenn die Konjunktur abflaut, muss eine Fokussierung stattfinden.

STANDARD: Gerade ging Chefredakteur Martin Kotynek wegen unterschiedlicher strategischer Auffassungen. Warum genau ging er?

Mitteräcker: Martin Kotynek hat große Verdienste um die redaktionelle und inhaltliche Weiterentwicklung des Hauses. Ich bin ihm wirklich dafür dankbar, was er in diesen sechs Jahren geleistet hat. Er hat die Produkte inhaltlich nicht nur weiterentwickelt, sondern auf ein Niveau gebracht, auf das wir sehr stolz sein können. Jetzt geht es um die Frage: Was können wir auf dem kleinen österreichischen Markt leisten? Da hatten wir unterschiedliche Bilder.

STANDARD: Und mit seinem Nachfolger ab April 2024, Gerold Riedmann von den "Vorarlberger Nachrichten" / Russmedia, passt der Bildabgleich?

Mitteräcker: Absolut. Unsere Vorstellungen decken sich hinsichtlich unserer Möglichkeiten am Markt und wie wir diesen begegnen sollten. Ich freue mich schon sehr auf die Zusammenarbeit.

STANDARD: Ist die Zukunftsperspektive des STANDARD weiter ein inhaltliches, journalistisches Angebot?

Mitteräcker: Hundertprozentig ja. Würden wir auf einen ausschließlichen Technologiefokus setzen, wären wir chancenlos. Was wir gut beherrschen, ist die Mischung aus journalistischer Ausrichtung und der Einbeziehung der Userinnen und User. Wir sind in Österreich das Medienhaus, das in der digitalen Transformation am weitesten fortgeschritten ist. Insofern haben wir die besten Voraussetzungen für die Zukunft. (Harald Fidler, 19.10.2023)