Notaufnahme Ottakring
Nicht nur Ort der Erstversorgung, sondern auch des Streiks: In der Klinik Ottakring eruptierte die Krise des Gesundheitssystem in einem Arbeitskampf
Heribert Corn

Der Staat bittet seine Bürgerinnen und Bürger ordentlich zur Kasse: In kaum einem anderen Land liegt die Steuer- und Abgabenquote so hoch wie in Österreich. Aber das ist, so könnte man meinen, eben der Preis für hochmoderne Spitäler, erstklassige Schulen und andere toll ausgebaute öffentliche Angebote.

Oder? Das heimische Selbstbild des vorbildlichen Wohlfahrtsstaates bekommt immer mehr Kratzer. Denn der große Aufwand schlägt sich keineswegs flächendeckend in hervorragenden Leistungen nieder.

In Spitälern riecht es nach Krise

Da wäre das Gesundheitssystem. Die im europäischen Vergleich enormen Ausgaben führen nicht automatisch dazu, dass die Gesundheit der Menschen besser wird. Die Österreicherinnen und Österreicher dürfen im Alter von 65 Jahren lediglich mit einer unterdurchschnittlichen Zahl an gesunden Lebensjahren rechnen. Und die Krisensymptome verstärken sich: Patienten beklagen Wartezeiten auf Behandlungstermine, Ärzte streiken wegen Überlastung und setzen Gefährdungsanzeigen ab, an allen Ecken fehlt das Personal. Selbst der Gesundheitsminister warnt vor einem Crash.

Ein Treiber ist der demografische Wandel. Die Menschen werden nicht nur immer älter, mit den Babyboomern kommt auch eine geburtenstarke Generation ins Pensionsalter – der Bedarf an Gesundheitsleistungen steigt. Doch die nachrückenden, zahlenmäßig kleineren Jahrgänge können den Personalbedarf nicht stillen, auch weil sich die Vorstellungen gewandelt haben. Ob Spital oder Hausarztpraxis: Jüngere Mediziner seien nicht mehr ohne weiteres bereit, das System mit exzessivem Arbeitspensum am Laufen zu halten, sagt Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS): "Wertfrei ausgedrückt sinkt pro Kopf die Produktivität der Ärzte. Österreich hat sich darauf schlecht eingestellt."

Verstärkend kommt eine Nebenwirkung hinzu, auch wenn sie Teil einer positiven Entwicklung ist. Der medizinische Fortschritt bedeutet größere Heilungschancen – aber auch mehr Kosten und Aufwand in Form vielfältiger Behandlungsschritte.

Umso mehr gelte es, die vorhandenen Mittel effizienter einzusetzen als bisher, sagt Czypionka. Viel wäre schon erreicht, wenn die Menschen nicht wegen jeden Schnupfens zum Arzt oder gar ins noch teurere Spital rennen würden. Die Telefonhotline 1450, bei der jede und jeder für einen ersten Check anrufen kann und soll, sei ein Anfang, aber ausbaufähig. Andere Länder würden längst auch Abklärung via Internet anbieten, teils gestützt von künstlicher Intelligenz.

Die Digitalisierung könnte weitere Entlastung mit sich bringen: Anderswo gibt es nicht nur Apps, dank denen Patienten unkompliziert Befunde einsehen, Termine vereinbaren oder Ärzte kontaktieren können. Auch die Mediziner bekommen per Knopfdruck ein umfassenderes Bild, als es die heimische Gesundheitsakte Elga bietet. Das verhindert, dass Leute im Kreis geschickt werden.

Not tut auch der Ausbau von Alternativen zu den für die Allgemeinheit teuren, aber von den Bürgern bis hin zur Überlastung frequentierten Spitalsambulanzen. Diese Forderung hat sich immerhin in einem Investitionsplan der Regierung niedergeschlagen: So soll sich die Zahl der sogenannten Primärversorgungszentren bis Ende 2026 verdoppeln.

Angst vor dem Alter ohne Würde

Aber warum erst jetzt? Was ließ die Politik absehbare Entwicklungen verschlafen? Czypionka landet beim Grundübel: Solange wegen der zersplitterten Kompetenzen zu viele Player mitspielten, sei das System träge. Langwierige Verhandlungen über Reformen erschöpften sich darin, dass am Ende mehr Geld fließe, sagt er: "Dann sind alle zufrieden. Doch währenddessen läuft uns die Realität davon."

Neu sind auch Warnungen vor dem Pflegenotstand nicht. Der demografische Effekt lässt die Nachfrage hier ebenfalls steigen – und der Mangel an Arbeitskräften ist bereits jetzt drückender als in der Ärzteschaft.

Lange hat sich die Republik auf die billige Tour durchlaviert. Frauen aus Osteuropa waren und sind es, denen viele ältere und gebrechliche Menschen Betreuung verdanken. Doch allmählich ziehen in den Herkunftsländern die Löhne an, was Auspendeln unattraktiver macht. Außerdem lässt die Alterung den Bedarf an Pflege dort ebenfalls steigen.

Ohne Migration werde es auch in Zukunft nicht gehen, glaubt Czypionka, nur solle diese fairer als bisher ablaufen. Anstatt Personal abzuwerben, in das man keinen Cent investiert hat, könnte Österreich etwa auf den Philippinen Ausbildungsstätten bauen, um einen Teil der Abgängerinnen zu rekrutieren. Das wäre auch ein Akt der Entwicklungshilfe.

Darüber hinaus gilt es, den Pflegeberuf für Anwärterinnen und Anwärter attraktiver zu machen. Das reicht von verbesserten Arbeitsbedingungen über finanzielle Absicherung in der Ausbildung bis zu mehr Möglichkeiten in der Laufbahn. Bessere Bezahlung allein werde nicht reichen, sagt der Experte, so brauche es etwa auch Imagepflege: Es sei kontraproduktiv, wenn Standesvertreter ähnlich wie die Ärzteschaft den eigenen Beruf ständig in den düstersten Farben darstellten.

Noch vieles mehr ist zu tun. Ein entscheidender Ansatz: Um Menschen nicht gegen den eigenen Willen in für die Allgemeinheit teure Heime zu zwingen oder andernfalls die Familien zu überlasten, braucht es bessere Alternativen – von leistbarer mobiler Pflege bis zu Nachbarschaftszentren. Damit das vielzitierte Altern in Würde nicht immer mehr zur Frage des Kontostandes wird.

Schule mit sozialer Staffelung

Maue Ergebnisse trotz hoher Ausgaben: Auch das heimische Bildungssystem fällt nicht aus der Reihe. Die Ergebnisse der Pisa-Tests zeugen vom durchschnittlichen Niveau der Schülerinnen und Schüler. Nicht nur die OECD moniert, dass Bildungserfolg hierzulande besonders stark vom Elternhaus abhängt. Kinder aus einem Akademikerhaushalt hätten eine neunmal so große Chance, selbst einen Uni-Abschluss zu erreichen, als Kinder von Eltern mit maximal Pflichtschulabschluss, sagt IHS-Bildungsexperte Mario Steiner: "Wir kaufen uns soziale Ungleichheit ein, ohne einen Vorteil bei der Performance zu generieren."

Ist daran die vielkritisierte österreichische Eigenart schuld, Kinder nach der Volksschule in Gymnasiasten und Mittelschüler aufzuteilen, statt die Schwächeren von den Stärkeren lernen zu lassen? Auch Steiner hält es für "ein Desaster", Neun- und Zehnjährige diesem Druck auszusetzen: "Würde das System die Begabungen so fördern, wie behauptet wird, müssten die Ergebnisse besser sein."

Dennoch glaubt Steiner nicht, dass die Einführung der Gesamtschule allein die soziale Ungleichheit nivellieren würde: "Eliten schaffen es immer, sich abzusondern, in dem Fall dann eben in Privatschulen." Abgesehen davon ist eine politische Mehrheit für eine derartige Revolution schlicht nicht in Sicht.

Was dann? Dringend müssten Lehrerinnen und Lehrer, an denen ohnehin akuter Mangel herrscht, für ihre eigentliche Aufgabe freigespielt werden: Gerade in Brennpunktschulen gehe zu Unterrichtsbeginn erst einmal viel Zeit drauf, um überhaupt die nötige Disziplin herzustellen. Sozialarbeiter und Sozialpsychologen sollten ebenso zum Standard gehören wie spezialisierte Kräfte, die den Pädagogen administrative Tätigkeiten abnehmen.

Dass Innovationen à la Teamteaching sozial benachteiligte Kinder stützen können, habe die einst unter Rot-Schwarz als "neu" betitelte Mittelschule bewiesen, sagt Steiner: Nur leider habe die spätere schwarz-blaue Regierung vieles davon zurückgenommen.

Das Schulsystem biete mit dem starken berufsbildenden Zweig zwar auch einen großen, international herausstechenden Vorteil, dennoch müsse man es "bis zu einem gewissen Grad neu erfinden". Kritisches Hinterfragen und vernetztes Denken würden in Zeiten der Informationsflut gegenüber dem Einlernen von Wissen immer wichtiger: "Einzeldisziplinen in 50 Minuten herunterzudeklinieren kann nicht die Antwort sein." (Gerald John, 22.10.2023)