Den Ablauf kenne er schon allzu gut, sagt Bini Guttmann. Wann immer im Nahen Osten Krieg ausbricht, "kommt es auch zu einer Eskalation in Europa". Aber was sich seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober abspiele, sei beispiellos. "Europa wird geradezu überrollt von einer Welle des Antisemitismus", sagt Guttmann, der Mitglied im Exekutivkomitee des Jüdischen Weltkongresses ist. In Deutschland sind die Dimensionen noch größer, aber auch in Österreich komme es immer wieder zu Spontandemos mit antisemitischen Sprechchören, und es mehrten sich Attacken gegen Jüdinnen und Juden.

Was ihn dennoch stört: dabei vom Problem des "importierten Antisemitismus" zu sprechen. Das klinge so, als gingen Österreich solche Tendenzen in arabischen Einwanderer-Communitys nichts an. Dabei leben viele dieser Menschen schon seit ein oder zwei Generationen hier oder besuchen die Schule in Österreich. Das Land gehe das also sehr wohl etwas an. Dazu kommt, dass es Antisemitismus auch unter Linken und natürlich unter Rechten gibt. Wer immer nur selektiv das Problem thematisiere, wolle es in Wahrheit nicht lösen.

Guttmann war zu Gast im Videotalk "STANDARD mitreden", der sich diesmal um die Frage drehte, wie sich der Konflikt im Nahen Osten in Österreichs Schulen und auf Österreichs Jugendliche auswirken wird.

Während die ÖVP immer wieder mit dem Begriff des "importieren Antisemitismus" operierte, pflichtete Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) Guttmann voll bei: Es gehe darum, gutes Zusammenleben an den Schulen zu ermöglichen, ganz egal, woher antisemitische Vorurteile kommen, sie gehörten bekämpft. Das Ministerium will forcieren, dass der Nahostkonflikt in den Schulen verstärkt diskutiert wird, weil das Interesse so groß sei. Nicht nur in Geschichte und Geografie, bei Bedarf soll in allen Fächern über Krieg geredet werden, so der Minsiter. Die Schulbücher seien hier meist nicht ausreichend, weshalb zusätzliche Materialen vom Ministerium angeboten werden. In welchen Fächern das Thema angesprochen werden soll – und wie? Antworten gibt es im Talk.

Furcht und Hamas-Fahnen

Spannende Einblicke in ihre Arbeit gab Katharina Röggla, pädagogische Leiterin bei Juvivo, einem Verein für offene Jugendarbeit in Wien. Viele der Jugendlichen, die Juvivo betreut, kommen aus migrantischen Milieus, sind armutsbetroffen, bildungsbenachteiligt und muslimisch. "Sie bekommen stark vermittelt, dass sie hier keinen Platz haben. Das sind Kids, die extrem empfänglich sind für Angebote, die lauten: Bei uns kannst du dazugehören. Dann entsteht diese Idee von der muslimischen Gemeinschaft", sagt Röggla. So identifizierten sich die meisten Jugendlichen aktuell viel mehr mit Menschen in Gaza als mit jenen in Jerusalem. Das Spektrum der Reaktionen sei breit: von Furcht vor Anschlägen in Wien bis hin zu Jugendlichen, die mit Hamas-Fahnen herumlaufen.

Diskutiert wurde darüber, wie Jugendliche mit antisemitischen Vorurteilen erreicht werden können: Während Minister Polaschek betonte, dass Lehrer mit Fakten gegen die Desinformation vorgehen müssten, der viele junge Menschen über soziale Medien ausgesetzt sind, blieb Jugendarbeiterin Röggla hier skeptisch. Es werde wenig helfen, in Schulen auf vermeintliche Falschinfos hinzuweisen. Was sie stattdessen vorschlägt: Die Antworten gibt es im Talk. Binni Guttmann hat eigene Ideen, um Radikalisierung vorzubeugen. Jüdisches Leben "gehört normalisiert", wie er sagt. Was er meint, erklärt er im Video.

Sehen Sie dort außerdem: Die Historikerin Helga Embacher skizzierte die Geschichte des Antisemitismus in Österreich seit 1945. Und: Sie plädiert dafür, im Kampf gegen Antisemitismus auch die Geschichte jener Länder im Unterricht in den Fokus zu nehmen, aus denen viele Zuwanderer nach Österreich gekommen sind. Warum das ein Mittel gegen Judenhass sein könnte? Die Antwort gibt es im Talk. Moderation: András Szigetvari. (Schnitt: Laura Schmidt, 22.10.2023)