Die Hamas besiegen und die Geiseln befreien – das sei "extrem kompliziert", sagt Israels früherer Ministerpräsident und Armeegeneral Ehud Barak im STANDARD-Interview. Einst war er selbst Kommandant in komplexen Geiselbefreiungsmissionen. Die Bodenoffensive werde mindestens zwei Wochen dauern, schätzt Barak. Nach dem Sieg über die Hamas solle ein Bündnis mehrerer arabischer Staaten den Gazastreifen auf eine Übergabe an die Palästinenserführung vorbereiten.

STANDARD: Israel steht vor einem Dilemma: Die Armee hat das Ziel, die Terrorinfrastruktur der Hamas zu zerstören, muss aber zugleich die rund 200 Geiseln beschützen, die im Gazastreifen festgehalten werden. Wie kann das klappen?

Barak: Es ist extrem heikel. Die Entscheidungen werden in Gaza von den militärischen Anführern der Hamas getroffen, nicht vom politischen Flügel. Die Militärs befinden sich aber überwiegend im Untergrund, sie sind auf verschiedene Tunnel verteilt. Ihr Kontakt zueinander ist gestört, ihr Kontakt zur Außenwelt unterbrochen. Das macht es schwierig, da heranzukommen. Ich vermute aber, dass die Hamas einen gewissen Anreiz hat, die allermeisten Geiseln mit nichtisraelischen Pässen freizulassen.

Ehud Barak hat als früherer Offizier Erfahrung mit Geiselbefreiungen.
Imago/Sue Dorfman

STANDARD: Warum?

Barak: Damit sie den Stempel einer IS-ähnlichen Organisation loskriegt, den sie ja seit den grauenhaften, barbarischen Massakern trägt. Dieses Image schadet ihr in der Welt.

STANDARD: Den Ruf, wie der IS zu operieren, hat sich die Hamas ja selbst eingehandelt, indem sie ihre Massaker gefilmt und ins Netz gestellt hat. Warum sollte sie sich jetzt plötzlich davon distanzieren wollen?

Barak: Die Hamas-Leute haben gegenläufige Tendenzen. Sie wollten die Welt und Israel terrorisieren, indem sie die Bilder veröffentlichten. Als sie aber bemerkten, wie sich die ganze Welt hinter Israel stellte, spürten sie vielleicht einen gewissen Druck.

STANDARD: Angenommen, die Hamas lässt tatsächlich alle ausländischen Geiseln frei. Macht es das für die israelische Armee leichter, an die übrigen Geiseln heranzukommen?

Barak: Nein, das macht es sogar komplexer. Solange es Geiseln aus der ganzen Welt gibt, könnte die Hamas vorsichtiger agieren. Sobald es nur noch israelische Bürger sind, könnte das Ganze sehr grausam und unvorhersehbar werden.

STANDARD: Israel kann nicht zugleich die Sicherheit der Geiseln garantieren und die Hamas vernichten. Teilen Sie den Eindruck, dass die Priorität in diesem Militäreinsatz beim Schlag gegen die Hamas liegt, weil – zynisch gesprochen – die Zukunft von neun Millionen Israelis schwerer wiegt als das Überleben von 200 Geiseln?

Barak: Das ist ein sehr heikles Thema. Ich weiß, es gibt die Versuchung, mich danach zu fragen, weil ich bei dieser und jener Geiselbefreiungsmission dabei war (als Kommandant der Eliteeinheit Sayeret Matkal, Anm.). Es ist aber nicht klug, das öffentlich zu besprechen.

STANDARD: Angenommen, die Armee zielt auf einen Hamas-Stützpunkt und erhält dann Hinweise, dass sich dort zwei Geiseln befinden: Soll die Armee trotzdem angreifen oder lieber davon absehen, um die Geiseln zu befreien – und damit riskieren, dass sich der Krieg noch weiter in die Länge zieht und viele Tote auf beiden Seiten fordert?

Barak: Sie versuchen, mir dieselbe Frage auf andere Weise zu stellen. (lacht) Ich will in diese Details nicht eintauchen und sie auf diese Weise mit der Hamas teilen.

STANDARD: Wie kann es gelingen, die Hamas militärisch in die Knie zu zwingen?

Barak: Was wir am 7. Oktober erlebten, war für uns der schwerste Schlag in der Geschichte des Staates Israel. Stellen Sie sich vor, Sie erleben das in Österreich, dass 1500 Bürger ihr Leben verlieren und mehrere Hundert verschleppt werden. Es ist auch deshalb ein Schock, weil es die Daseinsberechtigung Israels erschüttert, das ja gegründet wurde, damit die Juden der Welt hier in Sicherheit leben können. Es kann sich keine Nation leisten, neben einer IS-ähnlichen Organisation zu existieren. Wir müssen sie demontieren.

Nach wie vor ist das Schicksal von mindestens 203 Geiseln der Hamas-Terroristen unklar. Ihre Familien leiden.
IMAGO/Achille Abboud

STANDARD: Wie lange wird es dauern, bis die Hamas überwältigt ist?

Barak: Wir wären froh, wenn wir alle militärischen Kapazitäten der Hamas von der Luft aus auslöschen könnten, aber das ist unmöglich. Wir brauchen Soldaten auf dem Boden, vermutlich sehr viele. Sie werden von Haus zu Haus gehen, jeden Raketenstützpunkt, jedes Geschütz vernichten und die Täter aus dem Verkehr ziehen. Das wird wohl mindestens zwei Wochen dauern. Danach brauchen wir wohl noch weitere zwei bis drei Monate, um Gaza endgültig von der Hamas zu befreien.

STANDARD: Wie konnte der Überfall am 7. Oktober passieren – war es ein politisches oder ein militärisches Versagen?

Barak: Beides. Es war ein Versagen der Geheimdienste, der Einsatzkoordination, der Armeeführung, aber auch der Politik. Der Ministerpräsident (Benjamin Netanjahu, Anm.) war mehrmals gewarnt worden, dass unsere Sicherheit gefährdet ist. Im März verlangte der Verteidigungsminister dringend, das Sicherheitskabinett einzuberufen. Netanjahu hätte das sofort tun sollen. Stattdessen griff er zum Telefon und feuerte den Minister.

STANDARD: Wenn es gelingt, Gaza von der Hamas zu befreien: Was kommt danach?

Barak: Wir müssen überlegen, an wen wir die Fackel weiterreichen. Vorzugsweise wäre das ein Bündnis mehrerer arabischer Staaten, das drei bis sechs Monate lang die Übergabe an die einzige anerkannte Vertretung der Palästinenser organisiert, die Palästinenserbehörde.

STANDARD: Palästinenserpräsident Mahmud Abbas ist selbst nicht demokratisch legitimiert und höchst umstritten.

Barak: Ich bin mir nicht sicher, dass die arabischen Staaten und die Palästinenser dazu bereit sind, und wir können es ihnen nicht auferlegen. Das muss von ihnen kommen.

STANDARD: Angenommen, ich hätte Sie vor einem halben Jahr gefragt, ob die Hamas-Führung militärisch beseitigt werden soll: Hätten Sie Ja gesagt?

Barak: Ich glaube, in einer Art von Wunschdenken hätte ich gesagt: Die Welt würde ohne Hamas besser aussehen, aber das liegt jenseits unseres Einflusses. Die Frage war immer: Sollen wir es aus dem Nichts heraus initiieren? Ich hätte gesagt: Ja, aber nur, wenn wir jemanden haben, dem wir den Gazastreifen danach übergeben können. Denn es kostet Zeit, es kostet Leben, und Israel braucht einen legitimen Grund, um so etwas zu starten. Ich wünschte, es wäre nicht so ein tragischer Grund wie das, was am 7. Oktober passiert ist.