Die irakische Hauptstadt Bagdad.
Bislang waren die irakischen Behörden in Bagdad bei Rückführungen nicht kooperativ – das hat sich nun geändert.
APA/AFP/AHMAD AL-RUBAYE

Die erste Gruppenabschiebung von Wien nach Bagdad nach jahrelanger Pause fand vor drei Wochen, am 3. Oktober 2023, statt. Mit an Bord in dem Flieger, in dem sich laut Augenzeugen 23 Rückgeführte und 59 Polizisten befanden, waren auch zwei Männer, die an schweren psychischen Erkrankungen leiden. Sofern es auch im Heimatland Behandlungsmöglichkeiten gibt, ist das rechtlich kein Hindernis für eine Abschiebung. Wer in einer akuten Krise steckt, sollte allerdings weiter behandelt werden, sagt der Therapeut von einem der beiden Männer. Und auch von Seiten der Grünen sieht man die Abschiebung kritisch.

Herr F. (Name der Redaktion bekannt) gab im Asylverfahren an wegen Todesdrohungen aus Bagdad geflohen zu sein. 2015 ist er fast in einem kenternden Boot im Mittelmeer ertrunken und musste danach über längere Zeit im Spital behandelt werden. Dadurch hat er jeglichen Kontakt zu seiner Familie daheim verloren. Seine beiden Asylverfahren dauerten acht Jahre, während derer er nicht arbeiten durfte. Sie endeten negativ.

Laut dem STANDARD vorliegenden Dokumenten wurde Herr F. im Mai 2023 im Kriseninterventionszentrum (Kiz) vorstellig. Er litt an einer schweren Depression mit rezidivierenden, also wiederkehrenden, Suizidideen. Daraufhin wurde er beim Verein Hemayat für eine Therapie aufgenommen. Dieser wird aus Spenden und öffentlichen Mitteln finanziert und bietet kostenlose Therapie für Folteropfer und Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung an, wie sie infolge von traumatischen Erfahrungen auf der Flucht und danach entstehen kann.

Flugfähig trotz Suizidversuchs

Anfang Oktober sollte der Iraker zur Abschiebung festgenommen werden. Stattdessen wurde er in eine psychiatrische Klink gebracht. Willi Stelzhammer, sein Psychotherapeut bei Hemayat, besuchte ihn dort: "Mit mir kamen, gegen meinen Protest und jenen der Ärzte, zwei Polizisten bedrohlich mit ins Zimmer. Herr F. bekam eine Panikattacke. Er versuchte, im Badezimmer eine Flasche Putzmittel oder Shampoo auszutrinken, was ich gerade noch verhindern konnte", schilderte er dem STANDARD.

Ein Mensch in einer solchen akuten Krise müsste eigentlich weiterhin behandelt werden, sagt Stelzhammer. Dennoch: Herr F. wurde tags darauf in die Schubhaft gebracht und wenig später abgeschoben. Offenbar hatte ihm ein Polizeiarzt Flugfähigkeit attestiert. Eine solche Untersuchung finde vor einer Flugzeugabschiebung in jedem Fall statt, antwortete ein Sprecher des Innenministeriums auf eine diesbezüglich Frage. Zudem könne für den Flug "ärztliche Begleitung angeordnet" werden.

Tatsächlich gilt das Vorliegen einer auch ernsthaften psychischen Erkrankungen nicht unbedingt als Abschiebehinderungsgrund. Laut Sprüchen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist eine Rückführung durchführbar, sofern es auch im Rückkehrland Behandlungsmöglichkeiten gibt. Inwiefern diese dem Einzelnen zugänglich sein müssen, ist Gegenstand einer Reihe weiterer Sprüche.

Seit dem dritten Oktober bemüht sich Stelzhammer, Herrn F. auch in Bagdad zu helfen, wo er bei einem Bekannten untergekommen ist. Einmal wöchentlich findet per Whatsapp eine Therapiesitzung statt. Immerhin sei es gelungen, dem Patienten einmalig Psychopharmaka aus Wien zu schicken, sagt der Psychotherapeut.

Auch mehr Abschiebungen nach Bagdad aus Deutschland

Insgesamt sind in den kommenden Monaten und Jahren vermehrt Abschiebungen aus Österreich in den Irak zu erwarten. Wie viele Iraker in Österreich leben, deren Asylantrag abgelehnt wurde, die also ausreisepflichtig wären, ist unklar – aber offenbar gibt es seit diesem Jahr eine neue Vereinbarung bezüglich Abschiebungen mit der irakischen Regierung. Denn die hat bis vor ein paar Monaten, wenn überhaupt, nur die Rücknahme straffälliger Iraker akzeptiert.

Das ist zwar immer noch die offizielle Linie Bagdads, doch die Realität hat sich nun geändert. Bei der Abschiebung Anfang Oktober wurden auch nicht straffällige Personen abgeschoben. Und auch in Deutschland berichten NGOs, dass die Abschiebezahlen in den Irak seit einigen Monaten stark steigen.

In Bagdad ist seit vorigem Herbst eine neue, von pro-iranischen Milizen gestützte Regierung im Amt. Sie scheint dem Druck aus Österreich und Europa nachgegeben zu haben. Offenbar gibt es seit einigen Monaten eine Absichtserklärung der irakischen Regierung gegenüber einigen EU-Staaten, dass man in Sachen Migration wieder stärker zusammenarbeiten will.

Für die Regierung wäre eine funktionierende Kooperation mit dem Irak in Sachen Abschiebungen jedenfalls ein Durchbruch. Anfang September hat Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) in Bagdad wieder eine österreichische Botschaft eröffnet. Dabei wurde unter anderem vereinbart, dass bald ein österreichischer Polizeiattaché in die irakische Hauptstadt entsendet werden soll. Unklar ist, was Bagdad im Gegenzug für die Rücknahme abgelehnter Asylwerber fordert. Gegenleistungen gebe es keine, heißt es aus dem Innenministerium. Jeder Staat sei ohnehin dazu verpflichtet, seine Staatsbürger zurückzunehmen.

Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg mit dem irakischen Vize-Außenminister Mohammed Bahr Al Uloom am Dienstag, 12. September 2023 bei der Eröffnung der österreichischen Botschaft in Bagdad
Am 12. September 2023 eröffnete Außerminister Alexander Schallenberg (links) mit dem irakischen Vizeaußenminister Mahammed Bahr Al Uloom die österreichische Botschaft in Bagdad.
AUSSENMINISTERIUM/MICHAEL GRUBER

Die dem Innenministerium unterstehende Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) verschickt außerdem in letzter Zeit Schreiben an irakische Asylwerberinnen und Asylwerber, in dem eine Sonderaktion beworben wird: Wer bis Ende des Jahres freiwillig in den Irak zurückkehrt bekommt 1.000 Euro Rückkehrhilfe zusätzlich zu den 900 Euro die man bereits jetzt bekommen kann.

Ernst-Dziedzic: Kein offizielles Rückführabkommen

Ein offizielles Rückführungsabkommen gibt es mit dem Irak jedenfalls nach wie vor nicht. Im Unterschied zu einer informellen Vereinbarung, wie es sie jetzt offenbar gibt, hätte ein solches nämlich den Ministerrat passieren müssen und damit auch die Zustimmung der Grünen gebraucht. Die stehen Rückführungsabkommen nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, sagt die außenpolitische und Migrationssprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, zum STANDARD. Allerdings müssten Abschiebungen in den Irak sehr genau geprüft werden.

Nicht nur NGOs, auch das deutsche Auswärtige Amt weisen beispielsweise daraufhin, dass im Irak nach wie vor zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Stellen begangen werden. "Jemanden, der homosexuell ist, kann man beispielsweise nicht in den Irak abschieben", sagt Ernst-Dziedzic. Für die Eröffnung der Botschaft in Bagdad habe sie sich selbst eingesetzt, sagt sie weiter. "Weil es wichtig ist, dass wir den Irak nicht außen vor lassen. Jetzt bin ich aber doch überrascht, dass unsere erste Kooperation offenbar darin besteht, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion 23 Leute abzuschieben."

Einige der Abgeschobenen wurden als Asylwerber bereits vor Jahren abgelehnt. Die Behörden hätten also prüfen müssen, ob durch den langen Aufenthalt private oder familiäre Bande entstanden sind, die den Status des humanitären Bleiberechtes erfordern würden. "Das ist nicht passiert", sagt Ernst-Dziedzic. (Irene Brickner, Flora Mory, Johannes Pucher, 27.10.2023)