Die Aufregung auf dem Wiener Schwarzenbergplatz war groß am 24. Oktober des Jahres 1873. Tausende Schaulustige hatten sich versammelt, um die Inbetriebnahme eines Megaprojekts mit eigenen Augen mitzuverfolgen: In Anwesenheit von Kaiser Franz Joseph sollte der eigens für diesen feierlichen Anlass errichtete Hochstrahlbrunnen die ersten Fontänen des Wassers in den Himmel schießen, das aus den Kalkalpen im niederösterreichisch-steirischen Grenzgebiet in die Kaiserstadt geleitet worden war.

Das aufwendige Vorhaben, Gebirgswasser aus dem Rax-Schneeberg-Gebiet fast 100 Kilometer in die rasant wachsende Großstadt zu leiten, war heftig umstritten gewesen. Dass die Hochquellenwasserleitung trotz erheblicher Widerstände gebaut werden konnte, war vor allem zwei der auf dem Schwarzenbergplatz Anwesenden zu verdanken: dem Geologiepionier Eduard Suess und dem seit 1868 amtierenden Wiener Bürgermeister Cajetan Felder. Beide hatten sich jahrelang energisch für den Bau eingesetzt, um die mangelhafte Wasserversorgung und die katastrophalen hygienischen Bedingungen in Wien zu verbessern.

Hochquellenleitung Aquädukt Baden
Insgesamt 30 Aquädukte und andere Talquerungen wurden für den Bau der ersten Hochquellenleitung errichtet. Einer der bis heute eindrucksvollsten Bauten ist das 788 Meter lange Aquädukt Baden (im Bild beim Bau 1870)
Picturedesk/M. Weinghartshofer

"Peinliche Pause"

Während die Spannung auf dem Schwarzenbergplatz langsam in Ungeduld umschlug, passierte zunächst aber: nichts. Auf Suess’ Zeichen hin drehte der Oberingenieur schwitzend am Handrad des Wasserventils, doch Wasser kam keines. "Eine peinliche Pause", schrieb Suess später über den denkwürdigen Tag. "Nach einigen Minuten wiederhole ich das Zeichen. Wieder nichts. Ich beginne die Pulse an meinen Schläfen zu verspüren."

Bis dahin war 1873 für Wien ein krisenhaftes Jahr gewesen. Auf einen verheerenden Wiener Börsenkrach im Frühjahr, dessen Erholung auf sich warten ließ, folgte eine Cholera-Epidemie – just, während Wien mit der bis dahin größten Weltausstellung zum internationalen Publikumsmagneten werden wollte. Die Gäste flohen oder blieben überhaupt aus, die Weltausstellung geriet zum finanziellen Desaster. Nun, eine Woche vor dem offiziellen Ende der Ausstellung, sollte das Jahr mit der Eröffnung der Hochquellenleitung eine positive Wende nehmen.

Nach quälenden Minuten der Angst, Leitungsrohre könnten geplatzt sein und die kaiserliche Zeremonie gewissermaßen vor einem staubtrockenen Brunnen ins Wasser fallen lassen, schoss unter tosendem Jubel der erste Wasserstrahl empor. "Eine einzige kolossale Wasserlinie strebt senkrecht nach Aufwärts, wo sie erst in der Höhe von 184 Fuß, dreimal so hoch als die höchsten Häuser der Umgebung, sich theilt und in einer Reihe von Wasserfällen in das Basin sich ergießt", triumphierte ein Reporter des "Illustrirten Wiener Extrablatts".

Eduard Suess
Der Geologe Eduard Suess gilt als "Vater" der Wiener Hochquellenleitung. Der Bau des gigantischen Projekts war aber bei weitem nicht seine einzige Errungenschaft.
Picturedesk/Bridgeman Art Library

Kaiserliche Verkostung

Der Kaiser verkostete das Wasser pflichtbewusst und zog davon. Wien hatte seine erste Hochquellenleitung, die bis heute, 150 Jahre nach ihrer Eröffnung, exzellentes Wasser liefert. Hätte sich ihr Bau nicht immer wieder verzögert, wäre der Cholera-Ausbruch von 1873 vielleicht verhindert worden. Eines der ersten Opfer war die Britin Anna-Maria Brewster, die im Juni zur Weltausstellung reiste und durch verunreinigtes Brunnenwasser erkrankte, wie der Journalist Alexander Bartl in seinem Buch "Walzer in Zeiten der Cholera" (Harpercollins 2021) rekonstruiert hat. Mitte Juli wütete die Seuche schon in allen Wiener Bezirken, besonders in den Armenvierteln.

Dass die prekäre Wasserversorgung der wachsenden österreichischen Metropole ein drängendes Problem war, lag auf der Hand. Die Stadt hatte schon um 1860 die Halbe-Million-Einwohnergrenze überschritten und wuchs schnell weiter. Wie man das Problem des steigenden Wasserbedarfs lösen sollte, war jedoch umstritten: mit Wasser aus der Donau und anderen Flüssen um Wien, aus Tiefquellen im Wiener Becken oder aus den weit entfernten Hochquellen?

Hitzige Debatten

Der Geologe Suess plädierte nach eingehenden Untersuchungen der Bodenverhältnisse für den Bau der Hochquellenleitung und fand in Cajetan Felder einen Mitstreiter. Auch einige angesehene Mediziner sprachen sich mit Blick auf die desaströsen hygienischen Bedingungen für diese eindeutig qualitativste Variante aus. Die enormen Kosten des Projekts, letztlich wurden es 17 Millionen Gulden (heute etwa 221 Millionen Euro), sorgten allerdings für Gegenwind im Gemeinderat.

Für Felders Vorgänger als Wiener Bürgermeister, Andreas Zelinka, war es unbegreifbar, "Wasser mit einem Millionenaufwand vom Schneeberg herbeizuführen, während dasselbe in der Donau an uns vorüberfließt". Es gab zudem geschäftstüchtige Gegner der Hochquellenleitung, die sich durch eine andere Lösung große Einkünfte versprachen. Nach langen Diskussionen und Kampagnen wurde 1866 schließlich abgestimmt: Mit 65 Für- und 45 Gegenstimmen fiel die Wahl des Gemeinderats auf die Hochquellenleitung.

Video: Dem inzwischen umstrittenen Bürgermeister Wiens Karl Lueger ist es zu verdanken, dass Wien eine zweite Hochquellenleitung bekam
DER STANDARD

Dem gigantischen Bauprojekt haben der Stadthistoriker Peter Payer und der Fotograf Johannes Hloch in ihrem soeben erschienenen Buch "Gebirgswasser für die Stadt" (Falter-Verlag) ein Andenken gesetzt. Vor allem durch italienische Arbeiter wurden unzählige Stollen, Kanäle und dreißig Aquädukte errichtet. Nur 24 Stunden brauchte das Wasser, nach der Fertigstellung des Baus, nach Wien.

Hochstrahlbrunnen, Schwarzenbergplatz
Der Hochstrahlbrunnen am Schwarzenbergplatz wurde zum Symbol der modernisierten Wiener Wasserversorgung.
Picturedesk/Burger, Wilhelm / ÖNB-Bildarchiv

Identitätsstiftendes Wasser

Bei allem technischen Erfolg zeigte sich jedoch bald: Die Wassermenge reichte nicht aus, um den Bedarf der Stadt zu decken. Zwar erhielten bis 1888 schon 90 Prozent der Häuser in Wien Gebirgswasser, vor allem in den Wintermonaten herrschte aber Mangel. Selbst der Hochstrahlbrunnen auf dem Schwarzenbergplatz versiegte immer wieder. Auf die Erschließung neuer Quellen folgte der Bau einer zweiten Leitung, die 1910 eröffnet wurde und Wasser vom Hochschwab heranführt.

Eduard Suess, der auch die Wiener Donauregulierung zur Minderung der Hochwassergefahr maßgeblich vorantrieb, machte sich indes vor allem durch seine Forschung weltweit einen Namen: Er revolutionierte die Annahmen über die Entstehung der Alpen, führte Begriffe wie Atmosphäre und Biosphäre in die Geologie ein und trug maßgeblich zu einer systemischen Betrachtung unseres Planeten bei. Suess erkannte auch, dass es einst einen Superkontinent und einen Ur-Ozean gegeben haben muss, bis heute tragen sie die Namen, die er ihnen gab: Gondwana und Tethys.

Während sein internationales Ansehen stieg, war Suess, Sohn einer Jüdin, in Wien zunehmend antisemitischen Attacken ausgesetzt. Als er 1888 zum Rektor der Universität Wien gewählt wurde, eskalierten die antisemitischen Anfeindungen und Protestaktionen deutschnationaler Burschenschaften derart, dass er das Amt nach nur wenigen Monaten zurücklegte. Suess war Mitglied in zahlreichen wissenschaftlichen Akademien, ab 1898 stand er als Präsident der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien vor.

Einen Orden für seine Beiträge zum Bau der Wiener Hochquellenleitung lehnte Suess höflich ab. Sein Name blieb auch so untrennbar mit dieser Errungenschaft verbunden, die Wien nicht nur von Wasserproblemen befreite, sondern auch identitätsstiftend wurde. Das klang schon am Eröffnungstag 1873 in einer Ansprache des Innenministers Josef Freiherr Lasser von Zollheim an: "Das Wasser Wiens gehört fortan zu den Merkwürdigkeiten der Stadt, und wer, wie ich, heute so glücklich war, Zeuge des Schauspiels zu sein, der wird es begreiflich finden, wenn der Fremde künftig sagt: Das Wiener Wasser allein ist eine Reise nach dieser Stadt werth." (David Rennert, 24.10.2023)