Katsman in Wien.
Noy Katsman kam für eine Mahnwache für alle israelischen undpalästinensischenOpfer nach Wien.
© Christian Fischer

Für Noy Katsman aus Israel sollte zu Monatsbeginn ein spannendes Austauschsemester an der Universität Leipzig beginnen. Doch dann kam der 7. Oktober. Als erste Bilder von Hamas-Terroristen in israelischen Dörfern durchs Internet gingen, schrieb Katsman dem Bruder Hayim im südisraelischen Kibbuz Holit: "Alles ok?" Es gehe ihm gut, antwortete dieser sogleich. "Es gibt eine Warnung, aber hier ist es ruhig." Das war der letzte Kontakt, den die beiden hatten. Katsman trauert im STANDARD-Interview um Hayim, findet aber, dass der tiefe Schmerz keinen für Zivilisten tödlichen Krieg rechtfertigt.

STANDARD: Was ist am 7. Oktober passiert?

Katsman: Hayim, der seit Jahren in dem Kibbuz nahe am Zaun zum Gazastreifen lebt, wähnte sich offenbar in Sicherheit, als er mir in der Früh antwortete. Doch als ich ihm gegen 13.30 Uhr erneut schrieb, bekam ich keine Antwort mehr. Erst machte ich mir keine Sorgen. Ich dachte, er habe wohl tausende Nachrichten zu beantworten. Auch meine Familie konnte ich nicht erreichen. Denn sie ist sehr orthodox und am Schabbat bleibt das Handy aus. Als ich sie abends endlich erreichte, wussten sie auch nichts von Hayim. Dann stieg die Panik in mir auf. Um fünf Uhr früh rief mich mein Vater an, um mir mitzuteilen, dass Hayim tot gefunden wurde. Über Details möchte ich nicht sprechen, das schaffe ich nicht. Es gibt Berichte darüber im Internet.

STANDARD: Konnten Sie gleich nach Hause fliegen?

Katsman: Wegen dem Chaos, das in Israel nach den Angriffen herrschte, musste ich zwei lange Tage auf einen Flug nach Tel Aviv warten. Ich wollte unbedingt zu seiner Beerdigung. Wir hatten viele Jahre wenig Kontakt und waren gerade dabei, uns wieder anzunähern. Immerhin sind wir die Einzigen in der Familie, die nicht religiös sind. Und auch der Friedensaktivismus für Israel/Palästina einte uns. Doch dafür ist es jetzt zu spät.

STANDARD: Trotz dieses unvorstellbaren Schmerzes haben Sie dann an seinem Grab zu Frieden und Versöhnung aufgerufen.

Katsman: Hayim hätte das so gewollt. Er hat sein ganzes Leben dem Frieden gewidmet. Er war im Kibbuz sehr aktiv, als DJ spielte er am liebsten arabische Musik aus der Region und half als Gärtner und Mechaniker auch Palästinensern. Er hat die Vielfalt der Meinung im religiösen Zionismus studiert und darin Hoffnung geschöpft und sich als ehemaliger Soldat gegen die Siedler- und Polizeigewalt gegen Palästinenser im Westjordanland gestellt. Er war für Frieden und einen Palästinenserstaat. Doch ich wusste, dass niemand sich trauen würde, all das bei dem Begräbnis anzusprechen. In Israel lässt der Diskurs das nicht mehr zu. Daher musste ich es tun. Sein guter Freund, der seine Ansichten nie teilte, kam danach zu mir und meinte: Genau das hätte Hayim gesagt. Auch unsere Familie steht trotz aller Differenzen hinter uns.

STANDARD: Sie sagten in Ihrer Grabrede, der Schmerz der Angehörigen darf nicht missbraucht werden, um anderen Tod und Leid zu bringen. Wird er das denn?

Katsman: Meine Regierung ist in ihrer grundlegendsten Aufgabe, seine Staatsbürger zu beschützen, gescheitert. Denn anstatt uns zu schützen, hat sie etliche Soldaten ins Westjordanland beordert, um dort die gefährlich dummen Abenteuer und den Landraub der Siedler zu unterstützen. Damit erhalten sie die Phantasie eines rein jüdischen Israel/Palästina am Leben, obwohl sich zwischen dem Jordan-Fluss und dem Mittelmeer jüdische Israelis und Palästinenser demografisch in etwa die Waage halten. Zugunsten dieser Phantasien hat die Politik auf uns, die ganz normalen Bewohner dieses Landes, vergessen und unsere Sicherheit geopfert. Um von diesem Versagen abzulenken, bombardieren sie jetzt den Gazastreifen, wo extrem viele Menschen leben. Das ist schon seit Jahren die Strategie der Regierung, obwohl sie katastrophal scheitert. Seit Jahren fordern wir Friedensaktivisten einen Kurswechsel. Doch stattdessen verweigern die Regierenden eine Zweistaatenlösung und verursachen laufend Leid und Tod unter Palästinensern. Damit haben sie die radikalislamische und rechtsextreme Hamas nur gestärkt. Den Preis dafür zahlen nun wir. Es gibt etliche Angehörige von Terroropfern, die sich dagegen aussprechen, dass unser Schmerz nun für diesen nächsten Krieg instrumentalisiert wird.

STANDARD: Haben Sie das Gefühl, dass man Ihnen heute zuhört?

Katsman: In Israel kaum. Ich wurde von vielen Medien weltweit kontaktiert, aber von nur einer Zeitung in Israel. In Social-Media-Gruppen meiner Universität in Israel wurde ich massiv angefeindet, nachdem ich dazu aufgerufen habe, eine humanitäre Feuerpause einzufordern. Ich wurde sogleich als Terrorsympathisant und Verräter beschimpft. Viele meiner Kommilitonen sind voller Hass für Palästinenser, am liebsten würden sie sie alle von der Uni schmeißen. Wir sind alle von klein auf ständig mit der Behauptung konfrontiert, dass Palästinenser, denen seit Jahrzehnten Grundrechte und ein Staat verwehrt werden, nur die Sprache der Gewalt verstehen. Wenn man dieser Idee Glauben schenkt, müssen wir wohl den Gazastreifen auf ewig bombardieren, denn ich denke nicht, dass wir damit die Hamas je besiegen werden. Leider ist die Politik noch immer nicht bereit, anzuerkennen, dass die Strategie, den Konflikt so "zu managen", nicht funktioniert. Sie bombardiert Gaza lieber erneut, um zu zeigen, dass sie etwas unternimmt. Damit zeigt sie aber nur, dass auch sie nur die Sprache der Gewalt versteht.

STANDARD: Was ist die Alternative?

Katsman: Die Menschen in Israel sind wütend und voller Rache. Deshalb hört man derzeit überall Aufrufe zur Zerstörung Gazas. Auch dass man Zivilisten töten dürfe, um "Nazis" zu töten – ein in meinen Augen komplett irrsinniger Vergleich. Aber ich glaube ihnen nicht, dass sie das wirklich wollen. Dieser Hass ist die Folge jahrzehntelanger Segregation. Ich glaube, dass die Mehrheit der Menschen in Israel/Palästina endlich Frieden wollen.

STANDARD: Vielen Menschen, die wie Sie den Terroranschlag in einen Zusammenhang mit der jahrzehntelangen Besatzung und Segregation setzen, wirft man derzeit Relativierung bzw. Antisemitismus vor.

Katsman: Ich denke, Israel sollte sich endlich für Frieden einsetzen für alle Menschen, die hier leben – erst dann werden wir sehen können, wer Antisemit ist und wer nicht. Es ist nicht antisemitisch, Israel zu kritisieren. Oft vermischt sich jedoch die Kritik an Israel mit Antisemitismus. Ich bin jedenfalls schwer dafür, dass die Welt Israel und jüdisches Leben vollumfänglich schützt und unterstützt. Aber eben mit Hirn und Augenmaß. Deutschland und Österreich sollten aus historischem Verantwortungsgefühl nicht einfach alles unterstützen, was die Regierung macht, sondern darüber nachdenken, wie man den Israelis und Palästinensern hierzulande am besten hilft. Ich denke nicht, dass es die Menschen hier weiterbringt, wenn die israelische Armee Gaza bombardiert. Bald schicken sie meine Freunde nach Gaza und damit womöglich in den Tod.

STANDARD: Sie leben nun in Deutschland, wo die antisemitischen Übergriffe seit den Terrorangriffen stark angestiegen sind. Fühlen Sie sich dort unsicher?

Katsman: Ich habe mein ganzes Leben in Israel gelebt und bin gerade erst für das Auslandsemester nach Leipzig gezogen. Ich bin mir sicher, dass Antisemitismus ein Problem in Deutschland ist, kann dazu aber aus eigener Erfahrung nichts sagen. Was ich weiß, ist, dass ich in Israel für meine Haltung massiv angefeindet werde, wenn ich diese öffentlich zum Ausdruck bringe.

STANDARD: Wird die jüngste Eskalation im Nahostkonflikt die Fronten zementieren, oder glauben Sie, dass sich dadurch etwas ändern kann?

Katsman: Ich bin kein Prophet, aber ich sehe, dass die Mehrheit der Menschen in Israel/Palästina unter der Situation leidet. Die Ausnahme sind Politiker und Extremisten auf beiden Seiten. Sonst profitiert niemand vom Tod von Menschen. Wir sollten alle gemeinsam Frieden und eine bessere Zukunft fordern. Ich denke viele Menschen leben in Angst und wissen nicht, wie sie weiter tun sollen. Es ist ein Überlebensmodus. Die Welt sollte Israel dabei helfen, den Konflikt endlich beiseitezulegen. Wenn US-Präsident Joe Biden, wie sich gerade beim Thema humanitäre Hilfe für Gaza zeigt, so viel Einfluss auf Bibi (Anm.: Premier Benjamin Netanjahu) hat, warum nützt er ihn nicht, um das Kriegsbeil zu begraben? Warum wird jahrelang geschwiegen, wenn Israel Verbrechen begeht? Für dieses Schweigen zahlen wir nun den Preis. (Flora Mory, 28.10.2023)