Die Schlange vor dem Haus ist lang. Kurz vor dem 100. Jahrestag der Republik am 20. Oktober wollen viele Leute noch einmal sehen, wie İsmet İnönü, der zweite Mann hinter Mustafa Kemal Atatürk, gelebt hat. Das Haus auf Heybeliada, einer der Prinzeninseln vor Istanbul, war das Sommerhaus der Familie İnönü. Das Haus ist stattlich, doch das heutige Museum fällt in der Reihe mit den Nachbarhäusern nicht weiter auf. Eine Villa neben vielen anderen eben. Hier haben İsmet İnönü und seine Familie nach Gründung der türkischen Republik ihre Sommer verbracht.

Das Haus gibt einen guten Eindruck davon, wie die İnönüs, immerhin die zweite Familie der Republik, sich ein gutes Leben vorstellten. Der prägende Eindruck ist: ziemlich schlicht. Die İnönü-Villa strahlt das Ambiente einer gutbürgerlichen Familie aus, die mit ihren vier Kindern hier einigermaßen Platz fand. Nichts Extravagantes, kein Luxus – das Haus eines republikanischen Bürgers.

Auch 85 Jahre nach seinem Tod ist Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk stets präsent.
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Die Besucher schauen sich vom Arbeitszimmer bis zum Schlafzimmer alles interessiert an. "Ein bescheidener Mann", sagt eine junge Frau, "vor allem wenn man es mit dem Pomp des jetzigen Staatschefs vergleicht."

Zwar wurde İsmet İnönü erst nach dem Tod Atatürks zum Staatspräsidenten gewählt, doch schon zuvor war er der Mann, der die Visionen seines Freundes in operative Politik übersetzte. İnönü hatte in Lausanne den Friedensvertrag mit den Siegermächten und Griechenland ausgehandelt – eine Ausstellung, die derzeit in Istanbul zu sehen ist, würdigt ihn deshalb auch als großen Diplomaten.

Großmachtstreben

Viele der Gründer der neuen Republik, allen voran Mustafa Kemal Atatürk, waren beseelt von der Vorstellung, ihr Land solle zu den modernen Großmächten Europas aufschließen. Vor allem das zentralistisch regierte Frankreich wurde zum großen Vorbild. Da passte es, dass Frankreich einen radikalen Schnitt zum Katholizismus gemacht hatte und der Laizismus zur Staatsräson geworden war. Genauso sollte das "reaktionäre Regime" des Islam abgeschüttelt werden; genauso sollte in der zukünftigen Republik der Laizismus zur Grundlage des Staates werden.

Folglich wurde in den ersten Jahren der Republik zunächst der Sultan verjagt, dann das Kalifat abgeschafft, die religiösen Orden verboten und die Moscheen unter Staatsaufsicht gestellt. Mit der Einführung des lateinischen Alphabets wurde das Türkische nicht nur von den Einflüssen der arabischen und persischen Sprache bereinigt – es fand insgesamt ein radikaler Schnitt gegenüber der eigenen, orientalischen Vergangenheit statt.

Dieses avantgardistische Programm traf auf eine durch die vorangegangenen Kriege völlig verarmte, stark dezimierte Bevölkerung, die im Übrigen aus mehr als 80 Prozent Analphabeten bestand, die sich überwiegend an ihrer Religion und – im Falle der Kurden – an ihren Clanstrukturen orientierten.

Da war es nicht verwunderlich, dass es als Erstes im Osten, in den kurdischen Regionen, zu einem zunächst religiös motivierten Aufstand kam, der von der Republik brutal niedergeschlagen wurde. Militärischer Leiter der Operation war İsmet İnönü. Der Kampf gegen den "reaktionären Islam" und gegen die separatistischen Bestrebungen vor allem der Kurden wurde zur Grundkonstante der Republik.

Um die Bevölkerung zu gewinnen, startete die Republik eine große Bildungsoffensive und eine Bodenreform, die die Bauern aus den Klauen der Großgrundbesitzer befreien sollte. Trotz größter Widerstände und der widrigsten Voraussetzungen, unter denen die Republik gestartet war, wurde bis 1938, als Atatürk starb, eine stabile Grundlage des neuen Staates geschaffen.

Unterdrückter Konflikt

Als neuer Staatspräsident war es İsmet İnönü, der die Türkei erfolgreich aus dem Zweiten Weltkrieg heraushielt und anschließend mit der Einführung des Mehrparteiensystems die Grundlage für die türkische Demokratie schuf. Als bei den ersten Wahlen 1950 seine Republikanische Volkspartei dann krachend verlor und mit der Demokratischen Partei von Adnan Menderes erstmals seit Gründung der Republik eine konservativ-islamische Partei an die Macht kam, ging İnönü klaglos in die Opposition.

Mit der Wahl von Menderes war der zuvor unterdrückte Konflikt zwischen dem säkularen Staat und dem "reaktionären Islam" in der türkischen Politik wieder auf der Tagesordnung. Dieser Konflikt ist neben dem ethnischen Konflikt mit der kurdischen Minderheit bis heute der alles entscheidende Punkt in der türkischen Politik.

In den folgenden 50 Jahren wurde teils durch Repression und Militärputsche, teils durch weitere sozialpolitische Reformen des İnönü-Nachfolgers Bülent Ecevit versucht, die säkulare Republik weiter auszubauen. Mit der Wahl der AKP unter ihrem Vorsitzenden Recep Tayyip Erdoğan 2002 veränderten sich die Vorzeichen der türkischen Politik dann diametral.

Osmanen-Nostalgie

Erdoğans ideologisches Programm ist es, die vorangegangenen 80 Jahre Republik vergessen zu machen und wieder an die vermeintlich glorreichen Zeiten des islamischen Osmanischen Reiches anzuknüpfen. Er sieht sich selbst als Gegenentwurf zu Atatürk und will aus der laizistischen Republik wieder ein islamisches Reich machen.

Doch auch nach 20 Jahren an der Macht sieht er sich mit einem hartnäckigen Widerstand derjenigen Menschen konfrontiert, die sich ihren Lebensstil nicht von den Mullahs diktieren lassen wollen. Dank der Republik hat sich vor allem in den Städten ein mündiges Bürgertum entwickelt, das sich den Visionen Erdoğans nun hartnäckig widersetzt. Selbst nach dem letzten "Wahlsieg" des Dauerpräsidenten im Mai dieses Jahres ist dieser Widerstandsgeist lebendig.

Der Besucherandrang im Ferienhaus von İnönü ist im 100. Jahr der Republik jedenfalls enorm. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 29.10.2023)