"Wir dachten, er sei ein netter Mensch", sagt Alia über G., einen jüdischen Siedler, der in der Nähe von Alias Dorf Maarajat im Westjordanland lebt. Seit dem 7. Oktober ist G. aber vor allem eines: eine ständige Bedrohung. "Tag und Nacht kommt er ins Dorf, dreht hier seine Runden. Er sagt, wir seien schuld an allem Übel in der Welt. Er sagt unseren Leuten, sie sollen weg von hier."

Alia (27) lebt in Maarajat mit ihren vier Schwestern und zwei Brüdern. Wenn sie von den Terroristen spricht, die in ihr Dorf eindrangen, um sich schossen und erklärten, man müsse sie "umbringen wie die Leute in Gaza", dann spricht sie leise und schnell. "Die Angst setzt uns zu, unseren Körpern und unserer Seele", sagt sie. "Wir fürchten, dass uns dasselbe widerfährt wie den Menschen in Wadi Al-Siq."

Alia Mlihat, Mitglied der "Dorfwache" für Maarajat.
Maria Sterkl

Am 12. Oktober, fünf Tage nach dem Überfall der Hamas auf Israel, hatten ein paar Dutzend gewaltbereite jüdische Rechtsextreme das Beduinendorf Wadi Al-Siq, östlich von Ramallah, gestürmt. Die allermeisten Bewohner waren wegen früherer Siedlerattacken schon zuvor geflohen. Drei Hirten waren aber in Begleitung israelischer und palästinensischer Aktivisten zurückgekommen, um ihre Sachen zu packen, als die Siedler einfielen, die Männer fesselten und folterten.

Misshandlungen und Folter

Bilder des Überfalls wurden danach von den Angreifern in sozialen Medien geteilt. Man sieht Männer, die bis auf Unterhose und Socken nichts tragen, sie sind gefesselt, ihre Augen verbunden. Einer Haaretz -Journalistin erzählten die Männer später von schweren Misshandlungen. Die Siedler hätten auf sie uriniert, ihnen mit Zigaretten Brandwunden zugefügt, hätten einen von ihnen zu vergewaltigen versucht.

Bis heute können die Bewohner von Wadi Al-Siq nicht zurückkehren – einerseits aus Angst, aber auch, weil die Siedler die Zufahrt blockieren. Die Familien sind nun auf der Flucht, manche von ihnen konnten ihre Zelte am Rand der christlichen Stadt Taybe aufschlagen. "Sie sind bei uns willkommen, zumindest für die Dauer des Kriegs", sagt Priester Bashar Basiel. Geschützt vor Übergriffen sind sie aber auch dort nicht.

Nur wenige Stunden vor dem Besuch des STANDARD in Taybe hatten Rechtsextreme das Dorf überfallen, waren auf Bauern bei der Olivenernte losgegangen und hatten einen Schulbus attackiert. Es gab mehrere Verletzte. Basiel: "Das sind Terroristen. Sie unterscheiden nicht zwischen Muslimen und Christen."

Keine Konsequenzen

Radikale jüdische Siedler üben hier und in anderen Dörfern Rache. Sie tun es, weil sie es können: Niemand hindert sie daran, kaum jemand wird jemals zur Verantwortung gezogen. Schon gar nicht jetzt, da die ganze Welt auf den Horror der Hamas blickt und Israels Versuch, die Terrorgruppe im Gazastreifen militärisch zu bezwingen.

115 Palästinenser sind hier laut UN-Angaben seit Beginn des Krieges ums Leben gekommen, darunter 33 Kinder – wobei diese Zahlen nicht differenzieren, ob die Menschen von Soldaten oder von Siedlern getötet wurden. Aus Sicht vieler Betroffener macht das aber auch keinen Unterschied, und der israelische Aktivist Guy Hirschfeld erklärt warum: "Viele Soldaten in dieser Gegend sind selbst Teil der Hügeljugend" – ein euphemistischer hebräischer Ausdruck für den gewaltbereiten Flügel der Siedlerbewegung.

Wenn die Siedler-Gangs nach Maarajat kommen, ruft Alia nicht die Polizei, sondern israelische Aktivisten wie Sigal Harari Shukrun. Die 60-Jährige kommt jede Woche zwei- bis dreimal aus Zentralisrael hierher, um acht Stunden lang Wache zu stehen, um die Bewohner von Maarajat von den Siedlern abzuschirmen. Im Schatten einer Zeltplane am Rand der Durchfahrtsstraße sitzt sie mit anderen Aktivisten und hält den Blick konzentriert auf die andere Straßenseite. Von dort würden sie kommen, die radikalen Siedler.

Der "Wachposten" beim Dorf Maarajat
Maria Sterkl

"Bis vor zwei Monaten saßen wir hier nicht nur herum", sagt Sigal und lacht. "Unsere Aufgabe ist eigentlich, die Bauern mit ihren Schafherden zu begleiten und sie vor Angriffen zu schützen." Nun bleiben die Herden aber im Dorf. "Die Hirten haben Angst, hinauszugehen." Radikale Siedler haben jenseits der Straße einen Posten errichtet. Solche Outposts sind zwar nach israelischem Recht illegal, das wird aber nicht bestraft. Die Leidtragenden dieser Rechtlosigkeit sind die Bewohner von Maarajat: Der Großteil ihres Weidelandes befindet sich dort, wo nun der Outpost steht.

Schikane durch Siedler

Die Siedler hindern die Bauern daran, die Straße zu überqueren und die Grünflächen zu erreichen. Um die Schafe und Ziegen zu ernähren, müssen die Hirten von Maarajat nun viel Gerste zukaufen – fünf Tonnen pro Monat. Infolge des Kriegs in der Ukraine kostet das Futter nun um rund 70 Prozent mehr als zuvor.

Nicht nur die Siedler machen den Beduinen das Leben schwer, immer wieder sind es auch übereifrige Polizisten oder Soldaten. Einer der Hirten aus Maarajat ist gerade mit seinem Traktor auf dem Rückweg nach Hause, er bringt Wasser für die Tiere, als ein Polizeiwagen ihn aufhält.

Was er hier wolle, ob er nicht wisse, dass er hier nichts zu suchen habe, fragt die junge Polizistin. Nach längerem Hin und Her lässt die Polizei den Hirten ziehen. Zum Abschied machen die Polizisten eine Durchsage durch den Lautsprecher: "Am Israel Chai – das Volk Israel lebt", rufen sie dem Palästinenser zu und fahren davon.

Die aufgeheizte Stimmung wird auf die Schwächsten abgeladen – und auf jene, die sich mit ihnen solidarisieren. "Meiner Familie erzähle ich nicht, was ich hier tue", sagt Sigal. "Meine Neffen würden das nicht akzeptieren. Für sie sind die Palästinenser der Feind – sonst nichts." (Maria Sterkl aus Maarajat, 31.10.2023)