Recep Tayyip Erdoğan und seine Frau bei der Kundgebung am vergangenen Samstag in Istanbul.
Recep Tayyip Erdoğan und seine Frau bei der Kundgebung am vergangenen Samstag in Istanbul.
AFP/TURKISH PRESIDENCY PRESS OFF

Die große Tür ist aus massivem Stahl. Eine Kamera zeigt dem Sicherheitspersonal im Inneren, wer vor der Tür steht. Geöffnet wird das Tor nur für Menschen, die sich zuvor angemeldet haben und sich nun über eine Gegensprechanlage vorstellen. Danach geht es noch in eine Sicherheitsschleuse, erst dann kann man das Jüdische Museum in Istanbul betreten. Die Sicherheitsmaßnahmen kommen nicht von ungefähr. Zweimal wurde die Hauptsynagoge der Istanbuler Juden, Neve Shalom, an die das Museum unmittelbar angrenzt, in den vergangenen Jahrzehnten Ziel von Terroranschlägen.

Einmal 1986, als arabische Terroristen betende Menschen angriffen und 21 von ihnen töteten, das zweite Mal 2003, als türkische Al-Kaida-Anhänger auf Befehl ihrer Führer erneut zwei Synagogen in Istanbul angriffen und mehrere Menschen ermordeten. Diesem Horror völlig entgegengesetzt zeigt das Museum das über Jahrhunderte überwiegend friedliche Leben der Juden zunächst im Osmanischen Reich und auch später noch in der Republik, die am Sonntag ihren 100. Geburtstag feierte. Immerhin sind die knapp 20.000 Juden, die in der Türkei leben, immer noch die größte Gemeinde in einem überwiegend muslimischen Land.

Doch stets wenn es zwischen Israel und der Hamas brennt, erst recht nach dem brutalen Massaker, das die Hamas am 7. Oktober veranstaltete, und den nun immer massiveren militärischen Angriffen Israels im Gazastreifen droht dies auch das Leben der Juden in der Türkei in Gefahr zu bringen.

Hamas als "Befreiungsbewegung"

Zunächst schien der neue Krieg zwischen Israel und der Hamas die Juden in der Türkei weitgehend zu verschonen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan verhielt sich abwartend bis neutral und bot mehrmals an, die Türkei könne bei einem möglichen Austausch der Geiseln, die die Hamas im Gazastreifen gefangen hält, und palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen vermitteln. Doch als die israelischen Angriffe auf den Gazastreifen heftiger wurden und immer mehr Zivilisten starben, legte der türkische Präsident seine Zurückhaltung ab. In einer Rede vor der AKP-Fraktion am vergangenen Dienstag im Parlament bezog er eindeutig Partei und nannte die Hamas eine Befreiungsbewegung der Palästinenser.

Am Samstag legte Erdoğan dann noch einmal nach. Während einer von seiner Partei organisierten Massenkundgebung zur Unterstützung der Palästinenser, bei der sich mehrere Hunderttausend Menschen auf dem Flugfeld des ehemaligen Atatürk-Flughafens versammelten, peitschte er die Massen mit einer antiisraelischen Rede auf, in der er auch den Westen massiv angriff: "Israel, vor der ganzen Welt erklären wir euch wegen der Massaker im Gazastreifen zum Kriegsverbrecher", rief er der Menge zu. Und an den Westen gewandt sagte er: "Ihr habt um die getöteten Kinder in der Ukraine getrauert, warum schweigt ihr angesichts der getöteten Kinder im Gazastreifen?" Erdoğan unterstellte dem Westen, Israel als westliche Vorhut im Nahen Osten zu benutzen. Rhetorisch fragte er, ob "der Westen einen Krieg zwischen Kreuz und Halbmond" führen wolle: "Wisse, diese Nation ist bereit. Wie in Libyen, wie in Karabach, stehen wir auch für den Nahen Osten bereit."

Obwohl an seine islamistischen Unterstützer gewandt, muss diese Rede auch für "den Westen" und die Juden in der Türkei ein Warnruf gewesen sein – ganz anders als zu Zeiten seiner Vorväter, als Sultan Beyazit II. im ausgehenden 15. Jahrhundert die von der Inquisition bedrängten spanischen Juden einlud, ins Osmanische Reich zu kommen. Zehntausende folgten damals dieser Einladung. Die bis zum Holocaust größte jüdische Gemeinde Südeuropas in Saloniki und auch die vom Holocaust verschont gebliebenen jüdischen Gemeinden in Istanbul, Izmir, Ankara und Antakya zeugen davon. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten noch weit über 100.000 Juden im Osmanischen Reich, selbst zu Beginn der türkischen Republik vor 100. Jahren waren es noch rund 80.000 Gemeindemitglieder. In der Türkei waren sie vor der Verfolgung durch die Nazis geschützt, das Land, das im Zweiten Weltkrieg neutral war, wollte aber auch keine größeren Gruppen jüdischer Flüchtlinge aus Europa aufnehmen.

Frühe Anerkennung Israels

Allerdings gehörte die Türkei 1948 zu den ersten Ländern, die Israel diplomatisch anerkannten. Bis in die 1990er-Jahre des 20. Jahrhunderts blieb das Verhältnis zwischen der Türkei und Israel eng. Beide Länder arbeiteten militärisch zusammen, israelische Touristen kamen in Scharen in die Türkei. Das änderte sich erst, als 2002/2003 die islamische AKP an die Macht kam und Erdoğan Ministerpräsident wurde.

Was nach dem Hamas-Terror und den anschließenden israelischen Angriffen auf den Gazastreifen jetzt im Zeitraffer geschah, spielte sich in den Nullerjahren schon einmal in Zeitlupe ab. Zunächst versuchte sich Erdoğan auch damals als Moderator zwischen Israelis und Palästinensern, doch als der Erfolg ausblieb, wurde er international zum Anwalt der Palästinenser.

Wegmarken waren die Auseinandersetzung zwischen Erdoğan und dem damaligen israelischen Präsidenten Shimon Peres 2009 in Davos, wo Erdoğan Israel als "Kindermörder" angriff, und ein Jahr später der von Israel militärisch vereitelte Versuch, mit einer Schiffsflottille die Gaza-Blockade zu durchbrechen und Hilfsgüter in den abgesperrten Streifen am Mittelmeer zu bringen. Zehn Türken wurden damals von israelischen Soldaten getötet.

Jahrelang lagen die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern danach auf Eis, während ein Teil der Hamas-Führung auf Einladung Erdoğans in Istanbul logierte. Erst Ende 2016 beendeten die beiden Länder die Eiszeit wieder, 2018 kam es wegen Gaza allerdings erneut zu einem Konflikt mit dem wechselseitigen Abzug von Botschaftern. Erst 2022 hatten sich die beiden Länder wieder so weit angenähert, dass der israelische Präsident Yitzhak Herzog zu einem Staatsbesuch nach Ankara kam. Eigentlich sollte Erdoğan just in diesen Tagen nach Israel reisen, doch davon ist jetzt natürlich keine Rede mehr. Im Gegenteil, nach Erdoğans Brandrede hat Israel angekündigt, sein gesamtes diplomatisches Personal aus der Türkei abzuziehen. Israelische Staatsbürger waren schon Tage davor dringend aufgefordert worden, die Türkei schnellstmöglich zu verlassen. Für die insgesamt noch knapp 20.000 Juden im Land brechen wieder schwere Zeiten an. (Jürgen Gottschlich, 31.10.2023)