Pro-palästinensische Kundgebung in Paris.
Propalästinensische Kundgebung in Paris am vergangenen Wochenende. Viele befürchten ein Umschlagen in Gewalt.
EPA/Mohammed Badra

Wie gespannt die Lage in den französischen Vorstädten ist, zeigt eine kleine Episode um ein Bild, das in den sozialen Medien kursiert. Es zeigt die Fassade eines Banlieue-Wohnblocks, in dessen Fenstern Palästina-Flaggen hängen. Die Zeitung "Libération" ging der Sache nach und fand heraus, dass das Bild von einer früheren Solidaritätswelle in Pariser Einwanderervierteln stammt – als Immigrantenjugendliche wieder einmal die Intifada ihrer palästinensischen "Brüder" in ihr Wohnviertel übertragen hatten.

Auch wenn das Bild nicht aktuell ist, spricht die Aufregung darüber Bände. Der Geheimdienst DGSI, die Polizei und die Regierung in Paris beobachten die Lage an der Banlieue-Front wie die Milch auf dem Feuer. Die Lage in den "cités" (Einwandererwohnvierteln) gleicht bereits seit Ende Juni einem Pulverfass. Damals hatte die Polizei einen 17-Jährigen erschossen und damit mehrtägige Krawalle ausgelöst. Die Sommerferien brachten eine trügerische Ruhe; jetzt droht wegen des Gaza-Kriegs aber schon die nächste Eskalation.

Eine Woche nach dem Hamas-Angriff auf Israel ermordete ein junger Kaukasier in der nordfranzösischen Stadt Arras einen Lehrer mit Messerstichen. Bei der von der Regierung anberaumten Schweigeminute an Frankreichs Schulen gab es zahlreiche Störaktionen, die von den Pariser Medien geflissentlich ausgeblendet wurden.

Antisemitische Vorfälle

Antisemitische Vorfälle grassieren. Innenminister Gérald Darmanin bezifferte ihre Zahl am Montag auf 819. Zwei Beispiele: Im 20. Stadtbezirk von Paris wurde ein jüdisches Rentnerpaar am frühen Morgen von Rauchschwaden geweckt, nachdem Unbekannte Feuer an ihre Wohnungstür gelegt hatten. Im Vorort Levallois wurde der koschere Sandwichladen Mr. Schnitz mit Graffitis wie "Jude" und "Dieb" verschmiert, als fände ein Nazi-Pogrom statt.

Der Vorsitzende der Union jüdischer Studenten Frankreichs (UEJF), Samuel Lejoyeux, präzisierte nach Darmanins Bekanntmachung, dass vor allem die physischen Attacken zugenommen hätten. "Wir bekommen gesagt, das geschehe als Antwort auf das, was Israel den Palästinensern in Gaza antue", sagte der Jusstudent. "Je länger der Konflikt in Gaza dauern wird, desto größer wird unsere Bedrohung. An der Uni trägt heute niemand mehr Kippa."

Die Spannungen zwischen Juden und Muslimen – sie bilden in Frankreich die jeweils größten Gemeinschaften ihres Glaubens in Europa – waren 2012 offen zutage getreten, als ein lokaler Banlieue-Islamist drei jüdische Schulkinder und vier Erwachsene erschoss. Jetzt lässt Darmanin die Synagogen und jüdischen Institutionen erneut polizeilich schützen. Laut einer Umfrage glauben 72 Prozent der Befragten, dass der Nahostkonflikt nach Frankreich "importiert" werde.

Das seit den Bataclan-Anschlägen von 2015 gültige Terrorwarnsystem Vigipirate wurde vor zwei Wochen auf die höchste Stufe gesetzt. Außerdem legte Premierministerin Elisabeth Borne am vergangenen Freitag ein Maßnahmenpaket vor, das als Reaktion auf die Juni-Krawalle gedacht war.

Vorbeugende Maßnahmen

Sein Inhalt und natürlich auch sein Zeitpunkt wirken nun aber sehr prophylaktisch – als wolle die Regierung dem Übergreifen des Gaza-Konflikts auf die Vorstädte von Paris, Lyon oder Marseille vorbeugen. Wer ein lokales Ausgehverbot verletzt, muss mit einer Strafe von 750 Euro rechnen; bisher waren es 150 Euro gewesen. Für die Schäden der Krawallnächte sollen die Eltern verurteilter Jugendlicher aufkommen müssen. Die kaum bewaffnete Gemeindepolizei, die in den "cités" vor allem den Kontakt zu Einwanderervertretern aufrechterhält, wird stärker in die Deliktbekämpfung eingegliedert.

Als zentral nennt Borne die Schule. Lehrer sollen besser gedeckt werden, wenn sie etwa bei der Behandlung der Shoah auf teils gewalttätige Ablehnung stoßen. Gleichzeitig sollen Mittelschüler auch nach Unterrichtsende auf dem Areal bleiben können und beschäftigt werden, damit sie nicht auf den Straßen herumhängen.

Diese Vorschläge müssen teilweise noch vom Parlament abgesegnet werden. Schon jetzt wirft Innenminister Darmanin dem Linkenchef Jean-Luc Mélenchon vor, er heize die Stimmung in den Banlieue-Vierteln an. Damit verfolge er eine "äußerst zynische Wählerstrategie". Bei den letzten Präsidentschaftswahlen hatte Mélenchon nach Wählererhebungen in einzelnen Kommunen des "Banlieue-Departementes" Seine-Saint-Denis nordöstlich von Paris bis zu 50 Prozent der Stimmen erhalten. Heute weigert er sich, die Hamas-Miliz als "terroristisch" zu bezeichnen. Seine Abgeordneten nahmen dagegen am Samstag auch an der untersagten Palästina-Demo teil, an der "Israel Mörder, Macron Komplize" skandiert wurde. Mit zunehmender Dauer des israelischen Gaza-Einsatzes dürften solche Parolen den Weg bis in die Vorstädteviertel finden. (Stefan Brändle aus Paris, 31.10.2023)