Bild von Louis-Léopold Boilly (1761-1845),
In klassischen Romanen verlieren vorwiegend "schwache" Frauen das Bewusstsein. Nun hat die Wissenschaft erstmals einen Grund für dieses Phänomen gefunden, das immerhin 40 Prozent aller Menschen betrifft.
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Die Ohnmacht ist ein beliebtes Motiv in der Literatur. Im 18. und 19. Jahrhundert schwinden vor allem jungen Frauen reihenweise die Sinne. Oft dient die Ohnmacht dazu, dass sich die Angehörigen des "schwachen Geschlechts" einer schwierigen Situation entziehen, wie etwa im Tugendroman "Pamela" von Samuel Richardson. Oder sie werden von ihren Gefühlen überwältigt, wie Heinrich von Kleists "Käthchen von Heilbronn". Und sogar Jane Eyre, die starke Heldin von Charlotte Bronte, verliert einmal das Bewusstsein, als sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch steht. Auch Männer bleiben übrigens nicht verschont von der Übermacht der Gefühle. Im Ballett "Die Kameliendame" fällt der männliche Held Armand Duval in Ohnmacht, als er vom Tod seiner Geliebten, der Kurtisane Marguerite Gautier, erfährt.

Das Phänomen ist aber keinesfalls ein literarisches, etwa 40 Prozent aller Menschen fallen im Laufe ihres Lebens zumindest einmal in Ohnmacht. Dafür gibt es unterschiedliche Auslöser: Hitze, Kälte, Hunger, zu langes Stehen, Schmerz, Angst, psychischer Stress, Lärm oder auch der Anblick von Blut oder Nadeln können zu so einem Kreislaufzusammenbruch führen. In der Fachsprache nennt man diesen plötzlichen kurzzeitigen Verlust des Bewusstseins Synkope. Auch heute noch verlieren überdurchschnittlich häufig junge Frauen das Bewusstsein, etwa in Nachtclubs mit lauter Musik oder auch auf Popkonzerten – was immer noch gerne mit "Hysterie" abgetan wird. Insofern hat sich noch wenig am Weltbild geändert.

Wie es zu diesen Synkopen kommt, war der Wissenschaft bisher ein Rätsel. Das dürfte wohl auch daran liegen, dass meist Herz oder Gehirn isoliert untersucht werden, nicht im Zusammenhang. Doch nun haben Forschende eine neuronale Reaktion entdeckt, die diesen Prozess steuern dürfte. Beteiligt daran ist eine Gruppe sensorischer Neuronen, die das Herz mit dem Hirnstamm verbindet, wie das Fachmagazin "Nature" berichtet. Die Studie wurde Anfang November publiziert.

Entspannungsnerv beteiligt

Erforscht wurde das Phänomen an Mäusen. Wurden bei ihnen bestimmte sensorischen Neuronen am Herzen aktiviert, hörten die Versuchstiere beinahe unmittelbar auf, sich zu bewegen. Sie fielen um und zeigten Symptome, die auch bei Menschen im Zuge einer Synkope beobachtet werden, etwa rasche Erweiterung der Pupillen, rollende Augen, verringerte Herz- und Atemfrequenz und auch eine verminderte Durchblutung des Gehirns.

Bisher war nur klar, dass eine Ohnmacht durch eine verminderte Durchblutung des Gehirns ausgelöst wird, nun gehen die Forschenden davon aus, einen weiteren Grund entdeckt zu haben. Studien-Mitautor Vineet Augustine, Neurowissenschafter an der University of California in San Diego, erklärt: "Offensichtlich gibt es spezielle Schaltkreise im Gehirn, die die Durchblutung reduzieren."

Wie diese Schaltkreise mit dem Herzen interagieren, konnte nun gezeigt werden. Entscheidend dürfte der Vagusnerv sein. Das ist der größte Nerv des parasympathischen Nervensystems, das für Entspannung zuständig ist, und der das Gehirn mit mehreren Organen einschließlich dem Herzen verbindet. Besagte sensorische Neuronen, NPY2R-VSNs genannt, sind Teil des Vagus und bilden Äste in den unteren, muskulösen Teilen des Herzens, den sogenannten Ventrikeln, aus. Von dort verbinden sie sich mit einem Bereich des Hirnstamms, der Area postrema heißt. Kommt es zu einer Ohnmacht, stoßen sie eine Art Rezeptor aus, der die kleinen Muskeln in den Blutgefäßen dazu anregt, sich zusammenzuziehen. Diesen Vorgang konnten die Forschenden mithilfe von hochauflösenden Ultraschallbildern in Mäusen beobachten.

In aller Regel ungefährlich

In aller Regel ist eine kurze Synkope ungefährlich, die meisten Menschen erholen sich sehr rasch. "Neuronen ähneln verwöhnten Kindern. Sie brauchen Sauerstoff und Zucker, und zwar sofort. Ansonsten hören sie sehr schnell auf zu arbeiten. Umgekehrt nehmen sie ihre Arbeit sofort wieder auf, wenn sie wieder Sauerstoff bekommen", erklärt Jan Gert van Dijk, Neurologe am medizinischen Zentrum der Universität Leiden in den Niederlanden. Da eine Synkope üblicherweise maximal 60 Sekunden dauert, bleibt sie normalerweise ohne längere Folgen. Erst wenn sie länger als zwei Minuten dauert, könnte es für die Neuronen problematisch werden, weil sie ohne ausreichende Sauerstoffzufuhr absterben.

Doch was bedeutet das für die Behandlung von Ohnmachtsanfällen? Sehr häufig haben die nämlich keine offensichtliche Ursache. Trotzdem sollte man das Problem, wenn es öfter auftritt, medizinisch abklären. Denn Bewusstlosigkeit könnte ein Hinweis auf einige Krankheiten sein, etwa einen Schlaganfall, Epilepsie oder auch eine Blutzuckerentgleisung bei Diabetikern.

"Das Wissen über diese Signalwege kann zu neuen Behandlungsansätzen bei Synkopen führen. Immerhin wissen wir jetzt, dass das Herz daran beteiligt ist", sagt Kalyanam Shivkumar, Kardiologe an der University of California Los Angeles. Umgekehrt können kardiologische Fragen zu diesem medizinischen Problem nun aus neurowissenschaftlicher Sicht beantwortet werden: "Wir konnten aufzeigen, wie das Nervensystem das Herz steuert", sagt Studienmitautor Augustine.

Die Frage, die es nun zu entschlüsseln gilt, sei, was konkret diese sensorischen Neuronen triggert. Bis es so weit ist, muss man sich aber, um grundlose Ohnmachtsanfälle zu vermeiden, noch mit den bisher bekannten und erprobten Mitteln zufriedengeben: die Auslöser wie langes Stehen oder schlechte Luft in stickigen Räumen vermeiden, darauf achten, dass man immer genug Wasser trinkt, und langfristig die Ausdauer trainieren.

Passiert es trotzdem einmal, dann auf den Rücken legen, die Beine hochlagern, schluckweise kaltes Wasser trinken, frische Luft zuführen und im Zweifelsfall die Rettung rufen. (Pia Kruckenhauser, 5.11.2023)