Eine Reihe Menschen steht vor dem Hamburger Rathaus mit etwa zwei Metern Abstand zwischen den Wartenden.
Warten mit Abstand beim "Neujahrsimpfen" in Hamburg 2022.
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Noch immer sind die Markierungen auf dem Boden mancher Ämter und Geschäfte zu sehen, die wartende Menschen dazu anhalten sollten, Abstand zueinander zu halten, um das Ansteckungsrisiko zu senken. Die Maßnahmen aus der Covid-19-Pandemie wurden mittlerweile komplett zurückgefahren, wenngleich die Infektionszahlen derzeit auch für Sars-CoV-2 steigen. Und die Markierungen wirken wie Relikte aus einer vergangenen, vielfach vielleicht verdrängten Zeit.

Wie Menschen heute auf die Pandemie zurückblicken, untersuchte ein Forschungsteam mit österreichischer Beteiligung, das seine Ergebnisse nun im Fachmagazin "Nature" veröffentlichte. Demnach überschätzen Personen, die gegen Sars-CoV-2 geimpft wurden, nun ihre Angst vor einer Infektion während der Gesundheitskrise tendenziell. Ungeimpfte Menschen hingegen bagatellisieren sie eher. Auch die damaligen Schutzmaßnahmen werden entsprechend als mehr oder weniger gerechtfertigt angesehen. Dies führe zu einer Polarisierung der Bevölkerung, die Maßnahmen bei zukünftigen Pandemien erschwert.

Geld "verbesserte" Erinnerung

Ein Team um Philipp Sprengholz vom Institut für Psychologie der Universität Bamberg (Deutschland) wertete vier Befragungen von 10.800 Menschen aus elf Ländern weltweit inklusive Österreich aus. Dort gaben die Menschen etwa im ersten Jahr der Pandemie (2020) an, wie hoch sie die Gefahr und wie gerechtfertigt sie die Maßnahmen empfanden. Als rigide Maßnahmen gegen Covid-19 in den meisten dieser Länder aufgehoben waren (Anfang des Jahres 2023), wurden die Leute wieder befragt, und zwar unter anderem, wie sie damals die Gefahren durch die Krankheit und die Maßnahmen eingeschätzt hatten. Die Fachleute verglichen die Bewertungen in der Pandemiezeit mit der späteren Erinnerung daran. An der Studie war unter anderem Robert Böhm von der Fakultät für Psychologie der Universität Wien beteiligt.

Die Erinnerungen der Menschen waren durchwegs verzerrt, also nicht identisch mit ihrer einstigen Einschätzung. Dies ging je nach Impfstatus in unterschiedliche Richtungen: Geimpfte Leute überschätzten ihr damals persönlich wahrgenommenes Risiko einer Infektion und ihr Vertrauen in die Wissenschaft, schreibt das Forschungsteam. Nichtgeimpfte Menschen unterschätzten hingegen beides tendenziell. Interessanterweise "verbesserten" sich die Erinnerungen teilweise, wenn man den Befragten Geld für besonders gutes Gedächtnisvermögen auszahlte. Daher sind den Forschern zufolge die Erinnerungsverzerrungen zumindest teilweise persönlich motiviert und nicht allein durch bloßes Vergessen zu erklären.

Schilder mit Beschriftung
Vor der Pandemie hätte man bei "1G" oder "2G" vermutlich nur an veraltete Mobilfunkgenerationen gedacht.
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"Die Ergebnisse zeigen, dass es systematische Unterschiede darin gibt, wie sich Menschen an die Pandemie erinnern, obwohl sich ihre damaligen Einschätzungen oftmals gar nicht stark voneinander unterschieden", sagt Luca Henkel von der Universität Chicago (USA). Die verzerrte Wahrnehmung der Vergangenheit würde die gesellschaftliche Polarisierung fördern und die Vorbereitung auf kommende Krisen behindern.

Pandemiemüdigkeit stieg

Je mehr Wert die Menschen auf ihren Impfstatus legten, umso unrealistischer waren ihre Erinnerungen. Bei einer stärkeren Unterschätzung der damaligen Risikowahrnehmung wurden auch die politischen Maßnahmen als weniger angemessen wahrgenommen. "Wenig überraschend gaben diese Befragten auch an, dass sie nicht beabsichtigen, Bestimmungen in zukünftigen Pandemien zu befolgen", schrieben die Expertinnen und Experten. "Eventuell lässt sich die Identifikation von Geimpften und Ungeimpften mit ihrem Impfstatus reduzieren", sagt Böhm: "Damit könnte sich die Motivation verringern, die Erinnerungen überhaupt zu verzerren, und somit die Aufarbeitung der Pandemie verbessert werden."

In einer weiteren, im Fachjournal "Nature Communications" kürzlich veröffentlichten Studie ermittelte Robert Böhm zudem mit seiner Forschungsgruppe anhand einer neu entwickelten "Pandemiemüdigkeits-Skala", wie sehr während solch einer Krise Desinteresse aufkommt, informiert zu bleiben und sich an die Gesundheit schützende Empfehlungen zu halten. "Pandemien erschöpfen die Menschen im Laufe der Zeit so sehr, dass die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass sie den Empfehlungen der Behörden zum Gesundheitsschutz folgen", schrieben die Fachleute.

"Zukünftige Forschung muss zeigen, ob es effektive Interventionen gibt, mit denen man verhindern kann, dass Pandemiemüdigkeit entsteht, oder die sie nach ihrem Auftreten wieder reduzieren", erklärte Böhm der APA. "Von solchen Maßnahmen würden insbesondere jüngere Personen profitieren, da sie stärker als ältere Personen von der Pandemiemüdigkeit betroffen waren." (APA, red, 4.11.2023)