Der Überflieger aus Unterstinkenbrunn: Clemens Kaudela.
Syo Van Vliet

Es war wie 1998 mit Hermann Maier in Nagano. Nur auf einem Fahrrad – statt auf Skiern. Als Clemens Kaudela am Freitag, dem 13. Oktober dieses Jahres seinen zweiten Lauf beim extremsten Mountainbike-Freeride-Bewerb, der Red Bull Rampage in den USA, absolvierte, hielten Millionen Fans weltweit den Atem an. Nach einem Horrorsturz aus fast 15 Metern Höhe lag der 33-Jährige regungslos im Wüstensand. Schnell drehten die Kameras ab, viele befürchteten das Schlimmste. Doch nur Momente später stand Kaudela wie der sprichwörtliche Phönix auf, klopfte sich den roten Staub vom gebeutelten Körper und reckte triumphierend die linke Faust gen Himmel.

Die Zuschauermassen vor Ort jubelten, durch die online mitfiebernde Mountainbikewelt ging ein kollektives, erleichtertes Seufzen. Und als die Kamera den zerwutzelten 33-Jährigen in Nahaufnahme zeigte, drehte der sich zum Punkt seines unsanften Aufpralles um, schaute suchend hinauf und sagte im breitesten Weinviertler Dialekt den Satz, der weltweit live übertragen, aber wohl kaum wo verstanden wurde: "Wo bin i glondt?" So werden Legenden geboren.

Der wilde C-Dog from Austria

Zwar wurde Kaudela, der heuer als erster Österreicher bei der legendären Rampage am Start stand, am Ende nur unter DNF, also "Did Not Finish" gewertet, trotzdem ist er dank seines Sturzes einer der großen Gewinner. Jedes Kind, das sich für Mountainbiken interessiert, kennt seit 13. Oktober Clemens Kaudela. Den wilden Hund aus Österreich – Kaudelas Szene-Spitzname ist "C-Dog". Für Freerider wie ihn ist die Teilnahme an dem Bewerb – es wurden nur die 18 weltbesten männlichen Fahrer eingeladen – bereits wie ein Sieg. Denn die mediale Aufmerksamkeit, die damit einhergeht, beschert den Athleten gute Karten für Sponsorendeals. Davon leben Freerider, für die es keine von Verbänden organisierten Rennen gibt.

GoPro: Clemens Kaudela's Big Crash at Red Bull Rampage 2023
GoPro Bike

Kaudela finanziert sich sein Profi-Dasein, indem er nebenbei Mountainbiketrails baut. Daher war sein Fahrrad, mit dem er bei der Rampage angetreten ist, im Stile eines gelben Baggers bemalt. "Seit ich zurück bin, haben sich schon vier Sponsoren gemeldet, weil sie Verträge fürs nächste Jahr abschließen wollen. Das habe ich so noch nie erlebt. Mit 33 Jahren das Karrierehighlight, das ist schon cool", freut er sich.

Der Weg dorthin war kein leichter. DER STANDARD berichtete bereits im Juni über Kaudelas Bewerbungsvideo, das ihn zur Rampage führte. Darin zeigte er sein Können bei einem riesigen, waghalsigen Sprung über eine Felsklippe namens "The Minister". Ähnliches wollte er in seinem Rennlauf vollführen. Schließlich sei er nicht den weiten Weg aus dem Weinviertel nach Utah gekommen, um unter ferner liefen zu landen. Und so hat er sich gleich den höchsten Sprung von allen vorgenommen. Ein sogenannter Double Drop, den er aber ohne Zwischenlandung in einem Aufwaschen überspringen wollte. Das bedeutete allein 13,5 Meter reinen Höhenunterschied zwischen Absprung und "Sweet Spot", also dem idealen Landepunkt.

Kaudela und Freundin Elena Treiber nach dem Rennen.
Syo Van Vliet

Erst im letzten Training am Finaltag bezwang er dieses Monster zum ersten Mal. "Die Tage davor war es zu windig, um ihn zu testen. Darum bin ich in der Früh vorm Rennen gleich sechsmal hintereinander gesprungen", erzählt Kaudela. Diese Tests liefen perfekt. Sowohl die bereits eintrudelnden Fans als auch die Wettbewerbsjury standen mit offenen Mündern unter dem Felsen, von dem der Niederösterreicher samt Fahrrad geflogen kam. Online wurde bereits vom Underdog und Geheimtipp gemunkelt.

Rennen auf selbstgebautem Trail

Die Rampage ist ein einzigartiges Rennformat. Die Fahrer dürfen jeweils zwei Freunde mitbringen. Eine Woche vor dem Rennen wird der Austragungsort, ein felsiger Berg beim Zion-Nationalpark, bekanntgegeben. Die Teams haben eine Woche Zeit, selbst einen Trail mitsamt Sprüngen zu bauen. Am letzten Tag hat jeder Fahrer zwei Rennläufe. Die Jury aus ehemaligen Teilnehmern bewertet nach vier Kriterien: Linienwahl, die technisch anspruchsvoll sein soll, Höhe und Sauberkeit der Sprünge, Schwierigkeit und Ausführung der gezeigten Tricks sowie möglichst flowiger Style, also die scheinbare Leichtigkeit, mit der das Ganze gemeistert wird.

Kaudelas Line – eine Strecke heißt Line – war von oben bis unten extrem technisch. Schon am schmalen Berggrat, links und rechts fallen die Felsenhänge fast senkrecht 40 Meter tief ab, sprang er einen riskanten Drop. "Rechts waren nur Zentimeter Platz, um nicht mit dem Lenker am Felsen zu streifen. Links ungefähr gleich wenig Spielraum, um nicht in den Abgrund zu stürzen", erzählt er. Also kein Platz für Fehler. Und in dieser Gangart ging es weiter den Berg hinunter.

The Minister feat. Clemens Kaudela PROPAIN Bicycles
PROPAIN Bicycles

"Was ich unterschätzt habe", reflektiert er heute, "war der Unterschied zwischen Training und Rennen." Man müsse sich das so vorstellen, dass man bei dieser Dimension von Sprüngen quasi blind auf den Abgrund zufahre. "Du siehst keine Landung, du musst dich zu 100 Prozent darauf verlassen, von der richtigen Stelle mit der richtigen Geschwindigkeit abzuspringen", erklärt Kaudela. "Anders als im Training stand ich im Rennen aber komplett unter Strom, weil ich ja bereits von ganz oben kam und schon viele Features hinter mir hatte. Ich kam daher um etwa fünf Prozent zu schnell an die Absprungkante des Double Drops. Schon in der Luft wusste ich, das wird sich nicht ausgehen", lässt er die Momente vor dem Aufprall Revue passieren.

Wäre der Sturz nicht passiert, so verrät er, hätte er direkt nach diesem Sprung einen Rückwärtssalto über den sogenannten Canyon Gap gezeigt. Das ist eine mehr als 20 Meter breite Schlucht. Mit diesem Run wäre er wohl in den Top Ten gelandet, was eine automatische Wiedereinladung fürs nächste Jahr bedeutet hätte. Für Kaudela ist aber ohnehin klar, dass er 2024 wieder antreten will, um bis ins Ziel zu kommen. "Ich will ja nicht nur dafür bekannt sein, dass ich mich da reingeschraubt habe", witzelt er.

Der Freerider direkt nach seinem 15-Meter-Sturz.
Syo Van Vliet

Zwar zwicke die Schulter noch ein wenig, aber das MRT habe gezeigt, "dass zum Glück nichts passiert ist". Er könne schon wieder Holz holen und habe grade vorm Interview daheim ein Bett aufgebaut, untermauert er seine Unversehrtheit. Und er ärgert sich über den "vermurksten ersten Lauf", den er nach wenigen Fahrsekunden wegen eines zu kurz geratenen Flat 450, eines Sprungs mit Drehung, abbrechen musste. "Der war gar nix. Ich stand am Start und bemerkte plötzlich einen gröberen technischen Defekt am Radl. Du hast dort oben acht Minuten Zeit, in denen du losfahren musst. Meine Konzentration war weg", erzählt Kaudela. Mit knapper Not schaffte es sein Team, die Brüder Elias und Daniel Ruso, ihm das Ersatzbike hinaufzutragen. "Ich hatte nur mehr 30 Sekunden, um nicht disqualifiziert zu werden, also bin ich losgefahren und habe mich beim Sprung verschätzt."

Er habe also mit der Rampage noch eine Rechnng offen, die er 2024 begleichen will. Doch zuerst wird Kaudela zum Vortragsreisenden. "Seit ich zurück bin, dauert jeder Weg im Dorf, ob zum Bäcker oder sonst wohin, eine Stunde und mehr. Da sind ältere Damen, die haben sich sogar extra den Replay auf Youtube angesehen und gratulieren mir und wollen wissen, was ich eigentlich mache." Drum ist im November ein erster Rampage-Vortrag in Unterstinkenbrunn geplant, danach einer in Hollabrunn bei einem Trailverein. "Und vielleicht interessiert das ja auch noch sonst wo jemanden", hofft der Freerider.

Gewonnen hat die Rampage 2023 übrigens Freeride-Legende Cam Zink aus den USA. "Sehr verdient", wie Kaudela sagt. 2024 will er die rot-weiß-rote Fahne gern aufs Podium und nicht als Behelfs-Armschlinge tragen. (Steffen Kanduth, 6.11.2023)