Vor 15 Jahren machte der US-Jurist Cass Sunstein gemeinsam mit dem Verhaltensökonomen und späteren Wirtschaftsnobelpreisträger Richard Thaler in einem Bestseller den Begriff "Nudge" bekannt: Regierungen, Behörden und Unternehmen sollen Menschen nicht zu einem Verhalten zwingen, sondern mit klugen Anreizen dorthin "stupsen" – etwa gesundes Essen im Supermarkt auf Augenhöhe anbieten oder Arbeitnehmer automatisch, aber mit Opt-out-Klausel in Sparpläne aufnehmen.

Cass Sunstein, Sludge, Verhaltensökonomie
Mit der verhaltensökonomischen Taktik "Nudge" ist Cass Sunstein einst berühmt geworden. Jetzt kämpft er gegen "Sludge" an.
Harvard University / Rose Lincoln

Seit einigen Jahren hat sich der ehemalige Berater von US-Präsident Barack Obama einem noch größeren Vorhaben verschrieben, das er den Kampf gegen "Sludge" (Schlamm) nennt: der Identifizierung und Eliminierung alltäglicher Hindernissen, die Menschen davon abhalten, ihr Ziel zu erreichen oder ihr Recht zu erhalten. Dazu zählen seitenlange Antragsformulare, ewige Wartezeiten, unverständliche Anleitungen oder die Auflage, persönlich in einem Amt zu erscheinen, wenn es auch online erledigt werden könnte. All das seien "unnötige Reibungen, die Menschen daran hindern, ihr Leben zu verbessern", sagt Sunstein im Interview mit dem STANDARD, der NZZ und der FAZ, das von der Digital Academy of Behavioral Economics der Beratungsfirma Fehr Advice organisiert wurde.

Vor allem Menschen mit geringem Einkommen und wenig Bildung wären bei komplizierten Anträgen für Sozialhilfen benachteiligt – genau das Gegenteil von dem politisch Gewollten. Allerdings, so Sunstein, gebe es Beispiele, wo es gewollt sei, dass nicht alle Berechtigten etwas bekommen, wenn etwa zu wenig Budgetmittel für ein bestimmtes Programm vorhanden seien.

Sludge kann auch nützlich sein

Es gebe auch andere Beispiele für nützlichen Sludge – etwa Wartefristen beim Waffenkauf oder wenn eine Software nachfragt, ob man wirklich alle Dateien löschen will. In den meisten Fällen aber mache Sludge den Menschen das Leben schwer, und das oft ohne besondere Absicht. Deshalb würden immer mehr Regierungen und Unternehmen einen "Sludge Audit" einführen, bei dem sie bürokratische Abläufe durchforsten und nach möglichen Vereinfachungen suchen.

So sei es oft sinnvoll, Sozialleistungen an alle formal Berechtigten auch ohne Antrag auszuzahlen, wie das etwa in Österreich oft geschieht. Das Problem dabei: Auch Unberechtigte kommen dann leichter in den Genuss. "Wenn diese Zahl klein ist, dann ist das auch politisch kein Problem", antwortet Sunstein auf eine Frage des STANDARD. Australien habe etwa bewiesen, dass "man Sludge reduzieren kann, ohne dass Fehler und Betrug zunehmen."

Viel Bedarf in der Gesundheit

Einen hohen Bedarf an Sludge-Bekämpfung gebe es im Gesundheitssektor, wo vor allem Medizinerinnen und Mediziner darauf drängten. "Ärzte fühlen sich von Sludge belagert, und das demoralisiert sie", sagt Sunstein. Aber auch in anderen Bürokratien komme es vor, dass Menschen auf eine Rückerstattung von Reisekosten verzichten, weil sie dafür zu viel ihrer kostbaren Zeit investieren müssten.

In der EU sieht Sunstein besonders viel Sludge. "Ich arbeite sehr gerne mit der Kommission, aber die Dokumentationsverpflichtungen und andere Reibungen sind nicht immer notwendig." Als positives Beispiel für Sludge-Bekämpfung nennt er den digitalen Führerschein, der gerade in Österreich eingeführt wird, und andere Formen der digitalen Verwaltung. Die neue ID Austria passt da gut hinein.

Manipulation von Unternehmen

Besonders kritisch ist Sunstein gegenüber Unternehmen, die mit Sludge-Methoden ihre Profite erhöhen, indem sie es etwa schwer machen, ein Abonnement zu stornieren oder eine Rückvergütung zu beanspruchen. Der Einsatz künstlicher Intelligenz könnte solche Taktiken in Zukunft noch erleichtern, warnt er. "Ich bin dafür, dass Unternehmen Gewinne machen, aber bitte auf ehrliche Weise." (Eric Frey, 6.11.2023)