In wohl keinem anderen Land Westeuropas wird so eifrig "Israel-Bashing" betrieben wie in der Republik Irland. Vier Wochen nach den Hamas-Massakern in Israel mit 1.400 Toten bestimmen die Bilder vom Massensterben in Gaza die öffentliche Wahrnehmung. Die Regierung in Dublin fordert den sofortigen Waffenstillstand, für den konservativen Premierminister Leo Varadkar ist die israelische Offensive "mehr Rache als Selbstverteidigung". Hunderte von Uni-Dozentinnen und -Dozenten wollen israelische Kolleginnen und Kollegen boykottieren, die Oppositionsführerin fordert die Ausweisung der israelischen Botschafterin.

Mahnwache für die Menschen in Gaza in der irischen Hauptstadt Dublin.
REUTERS/CLODAGH KILCOYNE

Seit 1958 stellt die grüne Insel der UN im Nahen Osten Blauhelme zur Verfügung. Derzeit wachen dem Jahrbuch "Military Balance" zufolge 338 Iren im Auftrag von Unifil über den unruhigen Süden des Libanon. Eine Kompanie von 130 Mann steht mit Undof auf den Golanhöhen, weitere zwölf Soldaten sind als Untso-Beobachter eingeteilt.

Zur militanten Anti-Israel-Stimmung auf der grünen Insel dürfte beitragen, dass die Situation der Palästinenser seit Jahrzehnten mit der früheren Diskriminierung der Katholiken im britischen Nordirland verglichen wird. Kritiker sehen zudem einen Zusammenhang mit traditionellen antisemitischen Ressentiments der früher durchweg streng katholischen Bevölkerung.

Der frühere Innenminister Alan Shatter, einer der wenigen prominenten Juden des Landes, sprach angesichts propalästinensischer Demonstrationen vom "Dritten Reich auf den Straßen von Dublin". Irland habe kein Recht dazu, Israel gute Ratschläge zu erteilen, glaubt der 72-Jährige.

Das sehen die meisten Iren ganz anders. Schon die erste Stellungnahme von Staatspräsident Michael Higgins setzte am 9. Oktober die Hamas-Attacken, bei denen auch eine junge Israelin irischer Herkunft ermordet wurde, mit den Luftschlägen der Israel Defence Forces (IDF) gleich. Die Website des 82-Jährigen verzeichnet seither mehrere weitere Kommentare dazu, hingegen aber keinen Besuch bei jüdischen Institutionen. In der Republik Irland bekannten sich im vergangenen Jahr 2.193 Menschen zum jüdischen, 81.930 zum muslimischen Glauben. Der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung betrug 0,057 Prozent.

"Historischer" Judenhass

In der irischen Geschichte spielt Judenhass eine erhebliche Rolle, nicht zuletzt wegen des tiefverwurzelten Antisemitismus der lokalen katholischen Kirche, die bis ins 21. Jahrhundert massiven Einfluss auf Politik und Gesellschaft der grünen Insel hatte. Die Hasspredigten eines katholischen Geistlichen lösten noch 1904 im westirischen Limerick ein Pogrom aus. Von der Kanzel verdammte John Creagh angebliche Ritualmordpraktiken sowie Bankgeschäfte irischer Juden, verglich sie mit "Blutsaugern" und rief zum Boykott ihrer Geschäfte auf. "Die kleine jüdische Gemeinschaft zerstreute sich und konnte sich nicht wieder erholen", berichtet der Historiker Lord Paul Bew in seinem Standardwerk "Irland – die Politik der Feindschaft".

Der anstiftende Priester wurde versetzt, aber nicht bestraft. Er erhielt lautstarke Unterstützung von irischen Nationalisten, darunter auch von Arthur Griffith (1871–1922). "Der Jude bleibt immer ein Fremdkörper", schrieb der Journalist und Politiker, der 1905 die nationalistische Partei Sinn Féin (SF) gründete. Sein Andenken wird auch in der heutigen Partei gleichen Namens, 1970 aus einer Neugründung hervorgegangen, hochgehalten. Diese war schon bei der jüngsten Wahl zum Parlament Dáil 2020 stimmenstärkste Partei und hat Umfragen zufolge gute Chancen, nach dem nächsten Urnengang spätestens 2025 die Regierung in Dublin zu übernehmen.

Der harte Anti-Israel- und Pro-Palästina-Kurs hat bei den irischen Republikanern Tradition. Im 1998 nach 30 blutigen Jahren zu Ende gegangenen nordirischen Bürgerkrieg agierte SF als politischer Arm der irisch-republikanischen Terrortruppe IRA; diese wiederum unterhielt beste Kontakte zur PLO und erhielt Waffen und Sprengstoff vom libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi.

Bis heute hat sich SF nicht eindeutig von den Massakern an Zivilisten distanziert, die auf das Konto der IRA gingen, im Gegenteil: Immer wieder nimmt die Parteivorsitzende Mary Lou McDonald demonstrativ an Beerdigungen einstiger als Terroristen und Mörder verurteilter Gesinnungsgenossen teil. Wie selbstverständlich traf sich die Parteichefin auf einer Nahostreise 2018 auch mit der schon damals als Terrororganisation eingestuften Hamas.

Ausweisung der Botschafterin?

Nach einem Treffen mit den Botschaftern arabischer Staaten forderte McDonald am Wochenende die Ausweisung der israelischen Botschafterin Dana Erlich. Diese hatte sich öffentlich gegen den Vorwurf des Präsidenten gewehrt, Israel breche das Völkerrecht. Ohnehin sei Irland "nicht neutral in Bezug auf Israel und die Palästinenser". Seither agitieren auch Linkssozialisten und Labour in der Dáil für die Ausweisung Erlichs. Diese wäre kontraproduktiv, mahnt Außenminister Micheál Martin: Israel würde umgekehrt den irischen Botschafter des Landes verweisen und damit dessen Anstrengungen zunichtemachen, rund 35 Landsleuten die Ausreise aus Gaza zu ermöglichen.

Der offene Brief der Uni-Bediensteten in der "Irish Times" spricht vom Gaza-Krieg als einer "Kampagne von ethnischer Säuberung und einem Genozid gleichkommender Gewalt". Diese stehe in einer Reihe mit "Israels 75 Jahre dauernder Kolonisierung und Besetzung palästinensischen Gebiets". Deshalb müssten alle Verbindungen zu israelischen Bildungsinstitutionen sofort unterbrochen und auf Eis gelegt werden, "bis die Besetzung palästinensischen Territoriums beendet ist". Wie unklar die Definition dieses Territoriums bleibt, kritisieren Kollegen der Unterzeichnerinnen ebenso wie die gewundene Passage über die Massenmorde vom 7. Oktober: "Das Eindringen bewaffneter Palästinensergruppen" habe "kriminelle Attacken gegen Zivilisten eingeschlossen".

Gemeint sei "ein Massaker der Hamas", schreibt der Historiker Edward Burke vom University College Dublin, der einen Israel-Boykott ablehnt: "Israelische Gelehrte haben sich tapfer den Verbrechen ihrer Regierung und der Erosion des Rechtsstaates entgegengestellt. Sie nun von EU- und anderen Mitteln abzuschneiden ist komplett kontraproduktiv." Dass "überhaupt nicht mehr zwischen moderaten Israelis und der Regierung Netanjahu unterschieden" werde, beklagt auch der deutschstämmige Ökonomie-Professor Edgar Morgenroth von der Dublin City University. Er will jetzt ausdrücklich nach israelischen Kooperationspartnern Ausschau halten. (Sebastian Borger aus London, 6.11.2023)