Marine Le Pen zwischen leeren Sitzreihen im Parlament.
Beim Thema Nahost kann Marine Le Pen sich einer gemeinsamen Parteilinie im Rassemblement National keineswegs sicher sein.
AFP/GEOFFROY VAN DER HASSELT

"Wir stehen mehr denn je auf der Seite der israelischen Demokratie", wiederholt Marine Le Pen seit Tagen. "Die Sicherheit des israelischen Volkes ist nicht verhandelbar." Was die Gründerin des Rassemblement National (RN) im Brustton der Überzeugung deklamiert, ist gar nicht so selbstverständlich: Ihre Bewegung hat tiefe antisemitische Wurzeln. Ihr Vater Jean-Marie Le Pen war deshalb mehrfach verurteilt worden, so etwa, als er die Gaskammern des Zweiten Weltkriegs als "Detail der Geschichte" abtat. Der von ihm 1973 gegründete Front National (FN), der dem RN vorausging, war ein Sammelbecken von Ex-Nazis, Vichy-Anhängern und Mitgliedern der gewalttätigen Studentengruppe Groupe Union Défense (GUD). Diese war schon in den 1990er-Jahren mit dem Slogan aufgefallen: "In Paris und in Gaza – Intifada!"

Nach dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober twitterte die Pariser GUD-Sektion: "Weder Kippa noch Kippa". Dieser absurd klingende Slogan nimmt Bezug auf die alte rechtsextreme Losung "weder Kippa noch Keffieh" (das Palästinensertuch) und tut unverhüllt die Ablehnung Israels kund.

Der RN stellt jede Nähe zu den GUD-Extremisten in Abrede. Marine Le Pen treibt ihre Strategie der politischen Mäßigung und Banalisierung ihrer Thesen sehr zielgerichtet weiter, um bei den nächsten Präsidentschaftswahlen von 2027 mehrheitsfähig zu werden. Dazu gehört auch ihr proisraelischer Kurs. Mitte des Monats nahmen acht RN-Abgeordnete in Paris an einer großen Kundgebung des Dachverbands der französischen Juden (Crif) teil. Sie wurden bei der Demo geduldet, was für sie schon ein beträchtlicher Erfolg war: Vor fünf Jahren war Marine Le Pen bei einer Versammlung nach dem Mord an einer Jüdin noch ausgebuht und weggedrängt worden.

Antisemitische Stereotype

Doch auch jetzt wahren die französischen Juden ein starkes Misstrauen gegenüber den Lepenisten. Die fast mantraartigen Beteuerungen der RN-Gründerin stehen in Kontrast zur Haltung der Basis. Laut Umfragen herrschen im RN mehr antisemitische Stereotype – Reichtum, Medienmacht, Freimaurertum – als in anderen Parteien vor.

Le Pen selbst wettert gerne über islamistische Attentate auf Juden, unterschlägt aber opportunistisch die rechtsextremen Attacken mit gleichem Ziel. Sie behauptet, sie habe ihre Partei von jeder Art von Faschos gereinigt. Pariser Medien fragen allerdings, "ob Le Pens GUD-Connection wirklich zu Ende" sei. Im Frühjahr wurde bekannt, dass die zwei prominenten GUD-Mitglieder Frédéric Chatillon und Axel Lousteau die RN-Spitzenkandidatin Le Pen bis vor wenigen Jahren persönlich unterstützt hatten.

Heute bezieht die dem GUD zugeordnete Website "VoxNR" im Nahostkonflikt klar Stellung: Israel wird als "Schurkenstaat" verunglimpft; dagegen heißt es, die "Nationalrevolutionären" (NR) stünden "auf der gleichen Seite wie die Palästinenser". Nicht von ungefähr übernahm "VoxNR" einen Aufruf für eine vor allem von der Linken getragenen Pro-Palästina-Demo von Samstag – inklusive des Slogans: "Von Paris bis Gaza – Widerstand!"

Grunddilemma der Rechtsextremen

Der Extremistenexperte Jean-Yves Camus erinnert daran, dass der Nahostkonflikt die französische Rechte schon immer gespalten habe. Aus Islamophobie und Antikommunismus hätten im vergangenen Jahrhundert Einzelne auf das westlich orientierte Israel gesetzt; andere seien aus Judenhass für die Palästinenser eingetreten und hätten das Verschwinden Israels propagiert.

Heute "unterstützen sie aus Antisemitismus sogar die Hamas", hält die liberale Pariser Zeitung "L'Opinion" verblüfft fest. Der Chef der ultrarechten "Partei Frankreichs", Thomas Joly, wirft den Lepenisten vor, sie betätigten sich mit ihrem proisraelischen Kurs als "Sprecher von Tsahal", also der israelischen Armee. Im Präsidentschaftswahlkampf 2022 hatte Joly den Rechts-außen Éric Zemmour unterstützt. Jetzt weicht er wieder von ihm ab, weil Zemmour nach dem 7. Oktober Israel besucht und den Judenstaat als Hort gegen den internationalen Islamismus gepriesen hat.

In letzter Konsequenz gehen diese Querelen, Ambivalenzen und Widersprüche zum neuen Nahostkrieg auf das Grunddilemma der französischen Rechtsextremen zurück: aus Antisemitismus für die Hamas oder aus Islamfeindlichkeit für Israel? Einige können sich gar nicht entscheiden zwischen den beiden Formen von Hass. (Stefan Brändle aus Paris, 6.11.2023)