Im Gedenken an die Opfer der Pogromnacht vom 9. November 1938 erstrahlen bis Donnerstag digitale Rekonstruktionen des Leopoldstädter Tempels in Wien und des Neuen Tempels in Linz. Die Aktion ist Teil der #WeRemember-Kampagne des World Jewish Congress (WJC) und steht in Österreich unter der Schirmherrschaft von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka, der die Projektion schon am Dienstag mit dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, und dem designierten Botschafter Israels, David Roet, präsentierte. "'Nie wieder' ist jetzt", war man sich angesichts der zuletzt dramatisch angestiegenen Fälle von Antisemitismus einig. Nach der Veranstaltung sprach DER STANDARD mit zwei Jugendlichen aus der jüdischen Community.

STANDARD: Wie war das, als ihr von dem Massaker am 7. Oktober erfahren habt?

Gabriel: Es war komplett schrecklich. Es war ein jüdischer Feiertag. Ich habe nur erfahren, es ist ein Terroranschlag passiert, und es steht anscheinend ein Krieg kurz bevor. Kurz nach dem Feiertag habe ich dann online gesehen, was genau passiert ist, habe die Bilder gesehen und die Videos. Ich war erschüttert. Ich habe sofort meine Verwandten in Israel angerufen. Ein Teil der Familie war im Bunker.

Tempelgasse, Gedenkfeier, digitale Rekonstruktion des Leopoldstädter Tempels, 85 Jahre nach der Reichspogromnacht
Digitale Rekonstruktion des Leopoldstädter Tempels, 85 Jahre nach der Reichspogromnacht.
Heribert Corn

Sharon: Es ist wirklich sehr, sehr schlimm, denn jede Person hier kennt mindestens eine Person, der etwas passiert ist. Meine Freundin hat ihren Bruder verloren bei diesem Musikfestival. Ich habe auch sofort meine Familie angerufen und diese Freundin. Sie hat zuerst gesagt, bei ihnen sei alles okay. Zwei, drei Stunden später habe ich dann in den News ihren Nachnamen gesehen. Das war ihr Bruder. Er wurde erschossen. Ich war schockiert und konnte es nicht fassen.

STANDARD: Wie alt war er?

Sharon: 23. Ich habe meiner Freundin geschrieben, dass ich für sie da bin, so gut ich kann.

STANDARD: Wie ist es, wenn man so weit weg ist?

Sharon: Schwer. Meine Schwester studiert in Tel Aviv, war aber zum Glück noch hier. Das Semester findet nun online statt. Meine Familie wollte in den Herbstferien nach Israel fliegen, und ich sollte bei der Freundin schlafen. Das ist natürlich auch abgesagt. Sie hat mir davor geschrieben: "Wir werden lustige Tage haben." Ihre ganze Familie besteht aus so unfassbar netten, tollen Menschen.

STANDARD: Fühlt ihr euch in Wien sicher?

Gabriel: Es ist in Wien auf jeden Fall sicherer als in anderen Städten in Europa. Aber wenn ich jetzt hinausgehe, achte ich nicht mehr darauf, habe ich meine Schlüssel oder mein Handy mit, sondern ich achte darauf, ob ich meine Baseballkappe aufhabe. Nicht meine Kippa. Ich will meine jüdische Identität nicht verstecken, aber ich muss. Das ist traurig. Gerade in Europa, wo vor 85 Jahren noch die Nazis herrschten. In meiner Umgebung haben auch viele Familien ihre Mesusot von außen nach innen genommen, weil es einfach zu gefährlich ist jetzt.

Sharon: Ich gehe in eine jüdische Schule, und die Sicherheit ist sehr verstärkt worden, man sieht auch vonseiten der Exekutive, dass sie uns wirklich helfen wollen und es auch tun. Bei allen Demonstrationen war wirklich viel Polizei, und da habe ich mich sicher gefühlt. Aber natürlich spreche ich nicht mehr laut Hebräisch auf der Straße und gehe jetzt noch weniger in die Synagoge. Ich habe einfach mehr Angst. Die ersten drei Wochen nach dem Terroranschlag haben meine Mutter und mein Vater mich jeden Tag zur Schule gebracht.

STANDARD: Wie es in deiner Schule, Gabriel, die keine rein jüdische ist?

Gabriel: In meiner Klasse sind viele Muslime, aber von ihnen kommt Gott sei Dank nichts Negatives. Es ändert sich nichts an unserer Verbindung zueinander.

Als Teil der #WeRemember Kampagne des World Jewish Congress präsentierten IKG-Präsident Oskar Deutsch, ÖVP-Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka und der designierte Botschafter des Staates Israel David Roet den leuchtenden Leopoldstädter Tempel.
Als Teil der #WeRemember Kampagne des World Jewish Congress präsentierten IKG-Präsident Oskar Deutsch, ÖVP-Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka und der designierte Botschafter des Staates Israel David Roet den leuchtenden Leopoldstädter Tempel.
Heribert Corn

STANDARD: Hat der Lehrkörper es thematisiert?

Gabriel: Ich bin in der Klasse mit drei anderen jüdischen Leuten. Unser Klassenvorstand hat uns gesagt, dass die Lehrkräfte das Thema nicht aktiv im Unterricht ansprechen werden, damit der Konflikt nicht hier hergebracht wird. Aber wenn wir etwas besprechen wollen, sind sie für uns da.

STANDARD: Seht ihr Israel jetzt anders?

Sharon: Ich wusste immer, dass der Staat Israel ein sicherer Ort für Juden sein könnte, und habe manchmal mit dem Gedanken gespielt, dort einmal hinzuziehen. Aber meistens habe ich mir gedacht: wahrscheinlich eher nicht. Jetzt mit diesem Antisemitismus auf dieser Welt bin ich so froh, dass wir wenigstens einen Ort haben, wo wir sicher sind. Jetzt weiß ich noch mehr, warum wir diesen Staat brauchen.

STANDARD: Aber Wien ist doch euer Zuhause?

Sharon: Ja, aber wenn der Antisemitismus immer stärker wird, können wir irgendwann nicht mehr hier weiterleben.

Gabriel: Wir haben in den letzten Wochen beim Abendessen oft darüber geredet, wann der Zeitpunkt gekommen ist, nach Israel zu ziehen. Mein Vater liebt es, hier zu leben, er ist im Alter von sechs Jahren hergezogen, aber er sagt, wenn es so weitergeht, werden wir wohl in den nächsten Jahren unsere Koffer packen.

STANDARD: Was kann man tun, um das zu verhindern?

Sharon: Auf dem Ballhausplatz oder auch zuletzt auf dem Heldenplatz haben tausende auch nichtjüdische Menschen ihre Solidarität gezeigt. Das zeigt uns, dass wir nicht allein sind. Hoffentlich auch am Donnerstag bei Light of Hope.

STANDARD: Was kann man in eurer Generation machen?

Sharon: Die ganzen Social Media sind voller Palästina-Propaganda, Instagram, Tiktok, alles. Das Schlimme ist, dass es eine Art Trend ist. Die meisten Jugendlichen kennen sich überhaupt nicht geschichtlich aus, sie wissen gar nicht, was sie da sagen. Die hören den Satz "From the river to the sea"und schreien ihn mit, weil es ein Freund gesagt oder die Cousine gepostet hat.

STANDARD: Was könnte man gegen diese Online-"Trends" machen?

Gabriel: Die einzige Antwort, die mir einfällt, ist eben Social Media, sonst kann man dort nichts erreichen. Aufklärungsarbeit mit Influencern oder eigenen Accounts.

Sharon: Und Aktionen im öffentlichen Raum. Wie der Schabbattisch oder die leeren Kinderwägen in Wien, die man für die Geiseln aufgestellt hat. Da gehen Leute vorbei, und man kommt ins Gespräch. Jeder Sessel hatte ein eigenes Bild, und man kann visualisieren, wie viele Menschen das sind, von denen die Familien nicht wissen: Sind sie tot? Oder in einem Tunnel in Gaza versteckt? (Colette M. Schmidt, 9.11.2023)