Istanbul – Die Türkei steuert auf eine Verfassungskrise zu. Das oberste Berufungsgericht des Landes für Strafsachen, Yargıtay, will ein Urteil des Verfassungsgerichts nicht nur nicht anerkennen, sondern hat stattdessen am Mittwochabend den Generalstaatsanwalt beauftragt, Ermittlungen gegen die Mitglieder des Verfassungsgerichts aufzunehmen, weil diese ihre Befugnisse in unrechtmäßiger Weise überschritten hätten.

Damit, so der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, stehe die Existenz des Verfassungsgerichts auf dem Spiel. Er nannte das Vorgehen der Yargıtay-Richter "einen Putsch gegen den Rechtsstaat und die Demokratie". Alle Oppositionsparteien stehen kopf und wollen gegen diesen "Justizputsch", wie der neue Vorsitzende der CHP, Özgür Özel, es nannte, mit allen Mitteln vorgehen.

Statuen vor dem Eingang des Verfassungsgerichtes in Ankara. Die Waagschalen der türkischen Justiz sind in eine bedrohliche Schieflage geraten.
Statuen vor dem Eingang des Verfassungsgerichts in Ankara. Die Waagschalen der türkischen Justiz sind in eine bedrohliche Schieflage geraten.
AP/BURHAN OZBILICI

Anlass für den Versuch, das Verfassungsgericht auszuhebeln, ist eine Entscheidung der Verfassungsrichter in der Sache des linken Abgeordneten Can Atalay. Atalay wurde bei der Parlamentswahl am 14. Mai, die parallel zur Wahl des Staatspräsidenten stattfand, für die türkische Arbeiterpartei TIP als Abgeordneter der Provinz Hatay ins Parlament gewählt. Allerdings sitzt Can Atalay im Gefängnis und konnte deshalb sein Amt als Abgeordneter bislang nicht antreten. Er wurde im Rahmen des sogenannten Gezi-Prozesses wegen angeblichen versuchten Umsturzes des Staates gemeinsam mit mehreren anderen prominenten Oppositionellen wie Osman Kavalar zu 18 Jahren Haft verurteilt.

Individualklage

Zum Zeitpunkt der Wahl war dieses Urteil allerdings noch nicht rechtskräftig. Atalay strengte vor dem Verfassungsgericht eine Individualklage an und bekam recht. Am 25. Oktober beschied das Verfassungsgericht, Can Atalays Rechte als gewählter Abgeordneter seien unrechtmäßig beschnitten worden. Er müsse freigelassen werden.

Die Entscheidung ging zurück an die Strafkammer in Istanbul, die Atalay verurteilt hatte, die dann unverzüglich die Freilassung Atalays hätte verfügen müssen. Doch die Strafrichter weigerten sich, der Anordnung des Verfassungsgerichts nachzukommen, und reichten das Problem, völlig außerhalb der Rechtsordnung, an das oberste Berufungsgericht für Strafsachen, Yargıtay, weiter. Die Yargıtay-Richter befanden dann, das Verfassungsgericht habe selbst die Verfassung gebrochen und die Richter müssten dafür angeklagt werden.

Beispiellose Kampfansage

Diese Entscheidung ist eine Kampfansage an das Verfassungsgericht und in der türkischen Rechtsgeschichte beispiellos. Die Entscheidung der Yargıtay-Richter am Mittwochabend fiel am selben Tag, an dem das türkische Außenministerium einen Bericht der EU-Kommission, in dem zunehmende Demokratiedefizite beklagt werden, empört zurückwies.

Tatsächlich hat das Vorgehen der Yargıtay-Richter natürlich einen politischen Hintergrund. Sowohl die Regierungspartei AKP als auch ihr Koalitionspartner MHP schießen sich seit längerem auf das Verfassungsgericht ein, weil die Verfassungsrichter eine der letzten Instanzen darstellen, die einem Umbau des Staates im Sinne des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan noch im Weg stehen.

Angriff auf Verfassung

Erdoğan hat wiederholt angekündigt, er will die jetzige Verfassung grundlegend ändern und auch die "Ewigkeitsartikel" wie die Festlegung, die Türkei sei ein laizistischer Staat, abschaffen. Dem stünde das Verfassungsgericht im Weg. MHP-Chef Devlet Bahçeli hat deshalb schon mehrmals gefordert, das Verfassungsgericht zunächst ganz abzuschaffen.

Für die Opposition steht damit der Schutz, den die Verfassung bisher noch gewährt, zur Disposition. Das politische Ziel Erdoğans ist dasselbe, wie das des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu: Das Verfassungsgericht soll entmachtet werden, damit der Willkür der Machthaber keine Grenzen mehr gesetzt sind. Derweil sitzt Can Atalay natürlich weiter im Gefängnis und wird wohl so bald seinen Sitz im Parlament nicht einnehmen können. Im Gegenteil, die Yargıtay-Richter haben gefordert, ihm den Status als gewählter Abgeordneter auch formal abzuerkennen. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 9.11.2023)