Gesunde Nahrungsmittel, Obst und Gemüse aus der Vogelperspektive fotografiert
Wenn man pro Woche 30 verschiedene Pflanzen isst und die auch noch möglichst bunt sind, macht man schon sehr viel richtig für die Gesundheit.
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Essen ist unser täglicher Begleiter, ohne Nahrung überleben wir auf lange Sicht schlicht nicht. Allein schon deshalb ist es allgegenwärtig – und damit auch die Empfehlungen, was gesund ist und was man auf keinen Fall essen darf oder in Verbindung mit Essen tun sollte. Man kann die Regeln, Gebote, Mythen, Wunder und Verbote in Bezug auf Ernährung gar nicht alle aufzählen. Aber zwei Dinge haben sie gemeinsam: Sie sind praktisch alle so nicht ganz richtig. Und sie machen uns das Leben ziemlich schwer.

Denn vieles von dem, was uns über Ernährung erzählt wird, ist ungenau, irreführend oder schlichtweg falsch. "Das liegt an mangelnder wissenschaftlicher Prüfung, an fehlinterpretierten Forschungsergebnissen und an der Lebensmittelindustrie", sagt Tim Spector, Ernährungsmediziner, Professor für genetische Epidemiologie am King's College in London und Experte für personalisierte Medizin und Darmmikrobiom. "Und es liegt an der Tatsache, dass jeder Körper anders auf bestimmtes Essen reagiert. Ernährung muss deshalb ganz individuell gedacht werden, es kann keine allgemeingültigen Regeln geben."

Über all das hat er bereits mehrere Bücher geschrieben. Nachdem er zuletzt aktuelle Foodtrends und tief verwurzelte Vorstellungen über gesunde Ernährung entzaubert hat, liefert er nun einen Leitfaden für Ernährung und hat alle Infos dazu gesammelt, was die Wissenschaft über gesundes Essen weiß. Im STANDARD-Interview erklärt er, warum die Verarbeitung des Essens so ein großes Thema ist, welche neuen – und verlässlichen – Erkenntnisse es in der Ernährungsmedizin gibt und warum wir ganz entspannt aufhören können, Kalorien zu zählen.

STANDARD: Wann immer sie essen, machen sich viele Menschen Gedanken darüber, ob das jetzt gesund ist und ob sie die richtige Wahl getroffen haben. Warum ist das so ein Thema? Was machen Lebensmittel mit unserem Körper?

Spector: Unsere Essensentscheidungen sind die wichtigsten Entscheidungen, die wir als Individuen für unsere Gesundheit treffen können. In der Epidemiologie gibt es Daten, die zeigen, dass wir unser Risiko für zahlreiche Erkrankungen um 70 bis 80 Prozent senken können, wenn wir auf die für uns ideale Ernährung setzen. Das betrifft sowohl physische als auch psychische Probleme. Und bis vor kurzem war uns das nicht in diesem Ausmaß bewusst. Ich denke, das ist der Hauptgrund, warum jeder Mensch mehr über seine Essensentscheidungen nachdenken sollte.

Und es gibt noch einen weiteren sehr wichtigen Grund, das Klima. Die Ernährung ist der wichtigste Faktor, mit dem man als Individuum den Klimawandel beeinflussen kann. Wenn man sich selbst und diesem Planeten etwas Gutes tun will, dann ist Essen die Schnittmenge zwischen Gesundheit und Nachhaltigkeit.

STANDARD: Aber wie wissen wir, was wir essen sollen und was besser nicht? Einerseits gibt es ja bereits viel Wissen darüber, andererseits wird so manches als gesund angepriesen, was sehr zweifelhaft ist. Wie findet man sich in diesem Dschungel zurecht?

Spector: Das ist genau der Grund, warum ich mein neues Buch geschrieben habe. Es ist nämlich tatsächlich wahnsinnig schwierig. Und es ist genau das Problem, mit dem ich vor zwölf Jahren konfrontiert war, als ich selbst gesundheitliche Probleme hatte. Und das, obwohl ich mich schon sehr lange mit dem Zusammenhang zwischen Adipositas und Genetik beschäftigt hatte. Wenn nicht einmal ich wusste, welche Lebensmittel man mit ruhigem Gewissen essen konnte oder welcher Ernährungsplan gut war, wie sollten es dann andere wissen? Dieses Problem möchte dieser sehr praktische Ernährungsguide lösen.

Und es ist eigentlich gar nicht so schwer, ein paar Basisprinzipien reichen. Aber gleichzeitig muss man seine ganzen angelernten Glaubenssätze über den Haufen werfen und den Zugang, den wir zu Essen haben, völlig neu denken. Dazu will ich Menschen bewegen.

STANDARD: Wie meinen Sie das? Was sollen wir über den Haufen werfen?

Spector: Wir sollten uns davon verabschieden, Essen in Kategorien wie Fett, Zucker, Proteine oder Kalorien einzuteilen. Vielmehr sollten wir Nahrungsmittel als das sehen, was sie sind: eine unglaublich komplexe Zusammensetzung von Chemikalien, die unser Darmmikrobiom füttern, aus denen durch den Stoffwechsel wieder anderen Chemikalien entstehen, die unseren Körper ernähren, gesund erhalten oder auch krank machen können.

Wir haben immer mehr evidenzbasierte Daten, die zeigen, dass das der richtige Zugang ist. Der altmodische Zugang über die einzelnen Nährstoffgruppen, den Regierungen und die Lebensmittelindustrie anwenden, ist wirklich schlecht für unsere Gesundheit und langfristig damit auch für unsere Wirtschaft.

Und es kommt noch etwas dazu. Ich will, dass die Menschen ihr Essen genießen und sich nicht streng an Diäten halten oder Kalorien zählen. Ich will, dass sie Neues probieren, mehr Auswahl auf ihren Tellern haben und das Beste von ihrem Essen bekommen. Essen ist ja so wichtig für unser Sozialleben, für Genuss und Wohlbefinden.

STANDARD: Klare Regeln machen es aber einfacher, eine gesunde Ernährung umzusetzen, so kommt es zumindest vielen vor. Ist das Teil des Problems, diese Sehnsucht nach klaren Anleitungen?

Spector: Ja, die Menschen lieben Regeln und einfache Lösungen. Ich denke, das ist einer der Gründe, warum Nahrungsergänzungsmittel so beliebt sind. Man muss sich keine Gedanken über komplexe Ernährung machen, sondern nimmt einfach eine Vitamintablette. Die Nahrungsmittelindustrie verkauft uns auch einfache Botschaften. Essen Sie dieses Produkt, da ist wenig Zucker drin und es hat wenig Kalorien. Mittlerweile ist es so, dass in den nördlicheren Ländern Europas, und da zähle ich Österreich dazu, rund 75 Prozent aller Produkte, die in Supermärkten verkauft werden, hochverarbeitet sind. In Italien, Spanien oder Griechenland sind es wesentlich weniger.

Aber wir müssen realisieren, dass die beste Ernährung für die Gesundheit komplex und manchmal auch kompliziert ist. Man muss Zeit und Energie investieren, um die Zusammenhänge zu verstehen. Man muss sich weiterbilden. Mittlerweile geht das schon recht gut, es gibt das Internet, Podcasts und Bücher setzen sich differenziert mit dem Thema auseinander. Aber es stimmt, ich biete keine einfache Lösung. Meine Botschaft ist vielmehr, dass die Ernährung die beste Möglichkeit ist, die eigenen Gesundheit besser in der Hand zu haben. Und dass es sich lohnt, dafür etwas Aufwand zu betreiben.

STANDARD: Eine der heiligen Kühe in der Ernährung sind die Kalorien. Egal ob man gesund isst oder ungesund, am Ende komme es immer darauf an, dass man nicht mehr Kilokalorien isst als man verbraucht, wenn man sein Gewicht halten will. Das klingt auch sehr logisch. Warum denken Sie, dass das falsch ist?

Spector: Weil der Körper keine Maschine ist, wo man auf der einen Seite eine bestimmte Menge an Energie oder Kohle hineinfüllt und auf der anderen Seite kommt eine gewisse Menge an Wärme oder ein bestimmtes Produkt heraus. Genau so funktioniert das Kalorienkonzept aber. Das wurde im 19. Jahrhundert entwickelt und basiert auf der Denkweise der Industrialisierung. Man verbrennt Lebensmittel und schaut, wie viel davon es braucht, um Wasser zum Kochen zu bringen. Das ist aber eine sehr eingeschränkte Sicht auf die Funktion von Lebensmitteln, die in keiner Weise die Komplexität des menschlichen Stoffwechsels widerspiegelt.

Wenn wir unseren Körper nämlich mit weniger Energie versorgen, funktioniert der Stoffwechsel nicht nur langsamer, er versucht auch, Energie einzusparen und Fett zu speichern. Gleichzeitig kurbelt er den Appetit an. Das alles ist im Kalorienkonzept nicht bedacht, das basiert rein auf den Erkenntnissen der Physik.

Buchcover Nahrung fürs Leben von Tim Spector
Soeben ist das neue Buch von Tim Spector erschienen: "Nahrung fürs Leben. Alle neuen Erkenntnisse der Ernährungswissenschaft". € 33,95. Dumont.
Dumont

STANDARD: Aber es ist doch tatsächlich so, dass man zunimmt, wenn man permanent mehr isst, als der Stoffwechsel braucht ...

Spector: Das stimmt nur bedingt. Es kommt auch sehr darauf an, wie die einzelnen Lebensmittel verarbeitet sind. Zum Beispiel Nüsse. Man hat 50 Gramm ganze Nüsse und 50 Gramm vermahlene Nüsse. Beide haben die gleiche Menge an Kilokalorien. Aber die vermahlenen Nüsse, hat man in Labortests herausgefunden, liefern dem Körper viel mehr Energie. Das liegt daran, dass die darin enthaltenen Ballaststoffe aufgebrochen wurden, ebenso wie die Fette und der Zucker. Und das nimmt dem Stoffwechsel Arbeit ab, er kann mehr und schnellere Energie daraus ziehen. Das dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, warum hochverarbeitete Lebensmittel so problematisch sind.

Dazu kommt, dass Kalorien im Alltag ja überhaupt nicht exakt sind. Eine Schwankungsbreite von zehn Prozent bei den Angaben auf Nahrungsmitteln ist ganz normal. In Restaurants schwanken die Angaben schon einmal um bis zu 50 Prozent, je nachdem, wie groß die Portion ist. Das ist auch der Grund, warum Diäten einfach nicht funktionieren. Tatsächlich landen 80 Prozent der Menschen danach wieder bei ihrem Ausgangsgewicht oder nehmen sogar zu.

Ich könnte stundenlang über Kalorien sprechen. Aber das Hauptproblem ist, dass wir glauben, Kalorien sind eine gute Maßeinheit. Dadurch sprechen wir aber nicht mehr über die Qualität der Nahrungsmittel. Schauen Sie einmal in Länder, in denen die Menschen im Schnitt gesünder sind. Dort geht es nicht um Kalorien, dort geht es darum, dass frisches, hochwertiges, qualitativ gutes Essen auf den Tisch kommt.

STANDARD: Gibt es Studien zu dieser falschen Kalorienwahrnehmung?

Spector: Ja, wir wissen zum Beispiel aus Untersuchungen, dass als gesund ausgewiesene hochverarbeitete Produkte dazu führen, dass man im Schnitt um 25 Prozent mehr isst, als der Stoffwechsel tatsächlich bräuchte. Man weiß außerdem, dass die Zusatzstoffe in solchen Produkten, die dafür sorgen, dass alles zusammenhält, das Darmmikrobiom negativ beeinflussen, also die Bakterienvielfalt im Darm, die wesentlich mit dem Immunsystem zusammenarbeitet.

STANDARD: Welche anderen Ernährungsglaubenssätze sollte man hinterfragen?

Spector: Dass fettreduzierte Produkte gesünder sind. Jede wissenschaftliche Untersuchung zeigt, dass das nicht stimmt. Das reduzierte Fett muss ja auch ersetzt werden, also fügt man Stärke und bestimmte Kohlenhydrate hinzu, die alles andere als gesund sind. Vielleicht schafft man es mit fettreduzierten Produkten tatsächlich, ein paar Blutwerte zu verbessern. Aber es gibt keine Hinweise darauf, dass Menschen dadurch insgesamt gesünder werden und weniger Herzinfarkte, Schlaganfälle oder Krebserkrankungen bekommen.

Ein weiterer, eher neuer Mythos ist der Proteinmangel. Überall werden Proteinsnacks als gesunde Alternative beworben, dabei sind die wirklich ungesund. 95 Prozent aller Menschen brauchen kein zusätzliches Protein, sie nehmen ausreichend davon über die normale Ernährung auf. Diese Snacks gehen dann keineswegs in die Muskeln, sondern werden als Fett gespeichert.

STANDARD: Gibt es auch positive Ernährungsmythen?

Spector: Tatsächlich tut sich da gerade einiges. Von vielen Dingen, die lange als ungesund angeprangert wurden, aus welchen Gründen auch immer, schwarzer Kaffee etwa, dunkle Schokolade oder Erdnüsse, weiß man mittlerweile, dass sie sogar sehr gesund sind. Das liegt an den darin enthaltenen Polyphenolen und sekundären Pflanzenstoffen. Das ist eine Gruppe an Stoffen, die man noch nicht so lange kennt, eine Art pflanzliche Chemikalie. Es gibt immer mehr evidenzbasiertes Wissen dazu, dass diese Stoffe für das Herz und ein längeres, gesünderes Leben enorm wichtig sind.

Olivenöl ist ein sehr gutes Beispiel dafür. Lange hat man gesagt, das sei eigentlich gar nicht so gesund, weil es so viele gesättigte Fettsäuren enthält. Die enthält es tatsächlich. Aber gleichzeitig hat direkt gepresstes, nicht verarbeitetes Olivenöl unglaublich viele dieser Polyphenole, und das macht es sogar enorm gesund.

STANDARD: Will man sich gut ernähren, was sind Ihre wichtigsten Tipps, wie man es angehen sollte?

Spector: Man soll das Darmmikrobiom unterstützen. Gib man diesen Bakterienwelten das, was ihnen guttut, kann man nicht mehr viel falsch machen, weder für die eigene Gesundheit noch für die des Planeten.

STANDARD: Und wie funktioniert das?

Spector: Die erste Regel ist, dass man 30 unterschiedliche Pflanzen pro Woche isst. Das sind nicht nur Obst und Gemüse, auch Gewürze, Samen und Nüsse zählen dazu, ebenso Hülsenfrüchte. Die zweite Regel ist, dass man den Regenbogen essen soll, also möglichst viele Farben auf dem Teller haben. So bekommt man viele unterschiedliche sekundäre Pflanzenstoffe, Bitterstoffe und mehr.

Der dritte Tipp ist, dass man jeden Tag etwas Fermentiertes isst. Das kann Sauerkraut sein, Kimchi, Kombucha, aber auch Joghurt oder Käse. Macht man dann noch längere Essenspausen, also snackt nicht mehr am Abend beim Fernsehen vor sich hin, und reduziert hochverarbeitete Lebensmittel auf ein absolutes Minimum, dann macht man schon sehr vieles richtig. Das Mikrobiom ist zufrieden, und wenn die Bakterien zufrieden sind, produzieren sie Stoffe, die auch den Menschen zufrieden machen, ihn gut schlafen lassen, das Immunsystem unterstützen, die Psyche stärken und das Altern verlangsamen.

STANDARD: Also Schluss mit Diäten, Ernährungsregeln und sonstigen Heilsversprechen?

Spector: Ja. Wenn man so isst, braucht man keine Nahrungsergänzungsmittel. Man braucht keine Snacks, weil man länger satt ist, und man kann so viel essen, wie man will. Alles, was man dafür tun muss, ist neugierig bleiben und immer wieder neue Nahrungsmittel ausprobieren.