Mädchen vor Gittern in Gaza
Der Gazastreifen wird einmal mehr zum Trümmerfeld, wie hier in Rafah, an der Grenze zu Ägypten.
AFP/MOHAMMED ABED

Die Hamas-Führung in die Knie zu zwingen und zu garantieren, dass sie nie mehr aufstehen kann: Das ist das deklarierte Ziel Israels im aktuellen Gaza-Krieg. Ob und wie das möglich ist und was danach kommen könnte, ist ungewiss. DER STANDARD fächert auf, welche Szenarien möglich sind.

Szenario 1: Israel als militärische Besatzungsmacht in Gaza

"Israel wird für eine unbestimmte Zeit die Sicherheitsverantwortung in Gaza übernehmen", sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kürzlich. Das kann vieles bedeuten, und Netanjahu hat sich bewusst vage ausgedrückt, um die unterschiedlichen Stimmen in seiner Regierung einzufangen. Der Rechts-außen-Flügel in der Regierung – darunter die Religiösen Zionisten unter Finanzminister Bezalel Smotrich, aber auch Hardliner in Netanjahus Likud – wollen Gaza unter volle Kontrolle Israels bringen. Manche sprechen sogar von einer Annexion.

Der Regierungschef und vor allem Verteidigungsminister Joav Gallant halten aber wenig von dieser Strategie; auch der mögliche künftige Nachfolger Netanjahus an der Regierungsspitze, Benny Gantz, lehnt eine Reokkupation ab. Wiederholt hat auch US-Präsident Joe Biden seine klare Ablehnung einer langfristigen Besetzung des Gazastreifens ausgedrückt, was Netanjahu am Donnerstag veranlasste, gegenüber Fox News klarzustellen: Israel werde Gaza nicht wieder besetzen.

Das entspricht auch dem Tenor der Militärexperten in Israel, die es für höchst riskant halten, die mindestens 2,3 Millionen Palästinenser und Palästinenserinnen im Gazastreifen unter israelische Herrschaft zu bringen. In einem geleakten Dokument, das aus dem israelischen Geheimdienstministerium stammt, wird deshalb ein Modell zur Sprache gebracht, dem zufolge die Bevölkerung des Gazastreifens massenhaft vertrieben werden soll. Ein solches Szenario käme ethnischer Säuberung gleich.

Abgesehen von der moralischen Bewertung würde dieses Vorgehen Israel international unter massiven Druck bringen und die Beziehungen zu den USA gefährden. Es käme auch, wie Jordanien bereits klargemacht hat, einer Kriegserklärung an Ägypten und Jordanien gleich, die alles tun wollen, um eine massenhafte palästinensische Immigration in ihre Territorien zu vermeiden. Das hindert die rechtsradikalen Kräfte in Israel nicht daran, bereits jetzt Grafiken mit blonden Kindern am Strand vom Gaza, Israel-Fahne in der Hand, in sozialen Medien zu verbreiten und für "Besetzung, Vertreibung, Besiedlung" zu demonstrieren – ganz nach dem Motto: zurück in das Land, das uns sowieso gehört.

Szenario 2: Israel stürzt die Hamas und übergibt den Gazastreifen

Dieses Modell ist unter Experten die Variante mit der höchsten Zustimmung – zumindest für die erste Phase nach dem Sieg über die Terrorgruppen. Frühere hochrangige Offiziere wie etwa der ehemalige Generalstabschef und spätere Ministerpräsident Ehud Barak würden den Gazastreifen gerne in einer Übergangsregierung durch ein Konsortium mehrerer arabischer Staaten sehen.

Denkbar sind Jordanien, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain – also lauter Staaten, mit denen Israel diplomatische Beziehungen pflegt. Ob die arabischen Staaten dazu bereit wären, ist ungewiss. Diesem Modell nach würde das Konsortium die Übergabe Gazas an die Palästinenserbehörde vorbereiten.

Szenario 3: Die Palästinenserbehörde übernimmt direkt die Kontrolle

Dass dieses Szenario sofort nach einem Waffenstillstand eintritt, gilt als ausgeschlossen. Nach einer Übergangsphase, in der auch die schwer angeschlagene Behörde in Ramallah neu aufgestellt werden müsste, ist es aber denkbar – und aus Sicht Washingtons das präferierte Szenario auf längere Sicht.

Der Gazastreifen war schon einmal unter Kontrolle der Palästinenserbehörde (PA), und zwar als sich Israel vor 18 Jahren aus Gaza zurückzog und alle 21 Siedlungen im Gazastreifen abriss und die Bewohner – inklusive Friedhöfe und Synagogen – nach Israel absiedelte.

Die Kontrolle der PA währte nicht lange: 2007 putschte sich die Hamas an die Macht und baute seither ein rigides Terrorregime auf. Im Lauf dieser Jahre hat Palästinenserpräsident Mahmud Abbas auch im Westjordanland an Popularität verloren. Man hält ihm vor, dass er der israelischen Besatzung nichts entgegensetzt, sondern ihr sogar in die Hände spielt, indem er kooperiert. Dass sich Abbas seit 2006 keinen Wahlen stellt, dass er Gegner einsperren lässt und seine Unterstützer mit veruntreutem Geld besticht, trug ebenfalls nicht zu seiner Beliebtheit bei. Davon profitiert nicht zuletzt die Hamas.

Inmitten der Trauer und des Schocks nach dem 7. Oktober ist der aktuelle Vorstoß der USA für einen neuen Anlauf in Richtung einer Zweistaatenlösung der einzige Lichtstreifen am Horizont – wenn auch mit bescheidenen Erfolgsaussichten. Jede Diskussion über eine Übergabe des Gazastreifens an die PA setzt voraus, dass die Hamas am Ende des Kriegs nicht als Siegerin hervorgeht.

Die oft wiederholte Prämisse, dass Israel die Terrorgruppe bezwingen wird, ist alles andere als gesetzt. In sozialen Medien finden Kanäle, in denen die Massaker vom 7. Oktober banalisiert und Israels Angriffe auf zivile Ziele im Gazastreifen dramatisiert werden, viel Verbreitung. Selbst wenn die Hamas herbe militärische Verluste erleidet und dutzende ihrer Kommandanten getötet werden: Die Propaganda hallt nach. Oder, wie der palästinensische Premier Mohammed Shtayyeh sagte: "Hamas ist nicht nur eine Organisation, sondern eine Idee – sie lässt sich nicht zerstören."

Wie auch immer dieser Krieg am Ende ausgeht, eines steht wohl fest: Der Gazastreifen wird Gebiete abtreten müssen. Israel besteht darauf, eine ausreichend große Pufferzone zwischen Gaza und dem israelischen Grenzgebiet zu errichten. Die jüngste Geschichte lehrt: Diese Zone wird eher nicht auf israelischem Territorium entstehen. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 11.11.2023)