Viktoria Jarosch: "Ich dachte, das war's. Unsere Leute sind in der Stadt, und ich kann mit meinem Leben weitermachen."
Oleksandr Ratushniak

Wie kleine Kinder liefen Viktoria Jarosch und ihre Nachbarn nach draußen, freuten sich, fielen sich in die Arme. Als die ukrainischen Truppen die Kleinstadt Antoniwka bei Cherson am 11. November 2022 und nach mehr als acht langen Monaten der russischen Besatzung erreichten, hatte sie Freudentränen in den Augen. "Mein Gehirn konnte nicht verarbeiten, was da passierte", erzählt die 19-Jährige.

Ein Jahr später, an diesem Vormittag Ende Oktober, sitzt Jarosch im verlassenen Klassenzimmer einer Internatsschule etwa sechzig Kilometer Luftlinie von Antoniwka entfernt in der Stadt Mykolajiw. Hier lebt sie seit bald einem Jahr. Denn auf die Befreiung Chersons und der umliegenden Dörfer folgte nicht die erhoffte Normalität.

Viktoria Jarosch holt ihr Handy aus der Jacke und zeigt Fotos, auf denen sie mit ukrainischen Soldaten auf dem "Freiheitsplatz" in Cherson zu sehen ist. Sie erinnert sich, wie sich die Bewohner in den Tagen nach der Befreiung mit ukrainischen Flaggen dort versammelten und ukrainische Lieder sangen. Sie fielen den Soldaten um den Hals, die Bilder gingen um die Welt.

Konstante Angriffe

Jarosch strahlt, wenn sie an den Moment zurückdenkt. Sie habe an dem Tag damals ihre Notfalltasche ausgepackt und einfach zur Seite geworfen. "Ich war so glücklich. Ich dachte, das war's. Unsere Leute sind schon in der Stadt, und ich kann mit meinem Leben weitermachen", sagt sie.

Jubel in Cherson nach der Rückeroberung durch ukrainische Kräfte.
Jubel in Cherson nach der Rückeroberung durch ukrainische Kräfte.
REUTERS

Doch nach der Befreiung Chersons begann der fast tägliche Beschuss der Stadt durch die russischen Truppen, die noch immer auf der anderen Seite des Flusses Dnjepr stationiert sind. "Einmal blieb ich drei Tage lang im Schutzkeller. Bis ich es nicht mehr aushielt", erzählt Jarosch. Ende November 2022 packte die junge Frau schließlich eine Decke, ihr Telefon mit Ladegerät und floh in die nahegelegene Stadt Mykolajiw. Das rot-schwarz karierte Hemd und die schwarze Hose aus Kunstleder, die sie beim Treffen trägt, hat sie von freiwilligen Helfern, die mit Sachspenden helfen.

Untergebracht wurde Jarosch in einer Internatsschule, die im März 2022 zu einer Unterkunft für Geflüchtete umfunktioniert wurde. Die allermeisten Bewohner stammen aus der Oblast Cherson. Frauen mit Kindern, Familien und ältere Menschen, die sich im nahegelegenen Krankenhaus einer Dialyse unterziehen müssen.

Am Eingang, hinter einer schweren Holztür, sitzt eine mürrische Aufpasserin. Links im Erdgeschoß befindet sich der Speisesaal mit gedecktem Mittagstisch. Am Informationsboard hängen noch die Stundenpläne aus den ersten Wochen im Februar 2022. "Die lassen wir hier, als Erinnerung an unser Leben vor dem Krieg", sagt eine Ukrainisch-Lehrerin im Vorbeigehen.

Die Klassenzimmer sind indes leer, der Unterricht wird derzeit online geführt, nur die Lehrerinnen sind vor Ort. Zu gefährlich sei die Lage in Mykolajiw, erklären die Behörden der Stadt. Tagsüber, sagt Schuldirektorin Halyna Makarowa, gingen die Bewohner arbeiten oder spazieren. Das Rote Kreuz helfe mit den Dokumenten und der Koordination. Manche Familien blieben einen Monat, andere permanent. "Vieles hängt davon ab, wie schnell die Menschen eine Arbeit finden und dann eine Wohnung mieten können", sagt sie. "Einige entscheiden sich, nach Moldau oder Polen auszuwandern." Gleich nach Kriegsbeginn habe es eine erste große Fluchtbewegung nach Mykolajiw gegeben, sagt Makarowa – aus Cherson und den umliegenden umkämpften Gebieten. Mehr als 200 Menschen wurden im ersten Kriegssommer hier untergebracht.

147.000 Binnengeflüchtete

Nach der Rückeroberung Chersons folgte eine zweite Fluchtbewegung, mittlerweile könne man von einer dritten sprechen. "Wir wussten nicht mehr, wie es weitergehen soll", sagt die 32-jährige Irina Betsenko, die mit ihren beiden Kleinkindern auf einer Bank vor dem Schulgebäude sitzt. Anfang Oktober war die Familie aus Cherson geflüchtet. Den Entschluss traf Betsenko freiwillig. Andere Familien mit Kindern nahe der Front wurden in den vergangenen Wochen zwangsevakuiert.

Denn oft könnten Erwachsene, die Häuser besäßen, diese nicht loslassen, sagt die Direktorin Makarowa. "Gleichzeitig haben sie aber Kinder, deren Leben durch die Entscheidung zu bleiben bedroht ist." Die Menschen in den befreiten Gegenden sind nach den Kriegshandlungen und der Flut, die auf die Zerstörung des Kachowka-Staudamms im vergangenen Juni folgte, auf humanitäre Hilfe angewiesen. Landesweit benötigen diese Hilfe auf dem von der Ukraine kontrollierten Territorium laut den Vereinten Nationen sogar 17,6 Millionen Menschen.

Die Stadt Mykolajiw, die zu Kriegsbeginn ebenfalls heftigen Angriffen ausgesetzt war und aus der viele Menschen geflohen sind, ist mittlerweile wieder voller Leben. Auf den Plätzen spielen Kinder, fahren mit Elektrorollern, essen in den ungewöhnlich warmen Herbsttagen noch Eis und Zuckerwatte im Park. Doch viele sind nicht von hier. Von den mehr als 147.000 Binnengeflüchteten, die seit Kriegsbeginn in der Oblast Mykolajiw registriert sind, stammt der Großteil aus der benachbarten Oblast Cherson. "Wenn ich einkaufen gehe, sehe ich viele bekannte Gesichter. Im Supermarkt um die Ecke gibt es sogar ein Mädchen aus meiner Nachbarschaft. Wir reden oft miteinander, fragen einander, wie es uns geht und wann wir wieder nach Hause kommen", erzählt Viktoria Jarosch. Doch jede Woche erfahre sie aus den Nachrichten, dass Cherson wieder bombardiert wurde. Landesweit ist Cherson seit Monaten jene Region, aus der die meisten Explosionen vermeldet werden. Zuletzt griffen die russischen Truppen vermehrt mit gelenkten Flugbomben an.

Gedenken an die Opfer des Krieges in Cherson.
AP/Efrem Lukatsky

Die allgemeine militärische Lage fasste Walerij Saluschnyj, der Chef der ukrainischen Streitkräfte, vor kurzem in einem vielbeachteten Interview mit dem Economist zusammen: Die Situation an der Front sei in eine Sackgasse geraten. Er warnte, dass die aktuelle ukrainische Offensive Gefahr laufe, sich zu einem langwierigen Stellungskrieg zu entwickeln, der sich über Jahre hinziehen könne. Derweil finden in der Stadt Awdijiwka, im Donbass, heftige Kämpfe statt, manche sprechen von einem zweiten Bachmut.

Unter den Erwartungen

Die groß angekündigte Frühjahrsoffensive der Ukraine in diesem Jahr bleibt weit unter den Erwartungen, nachdem schon die Befreiung von Cherson und Umgebung den Bewohnern nicht den erhofften Frieden gebracht hat. Doch der Beschuss sei noch immer besser als das Leben unter den Besatzern, sagt Viktoria Jarosch. Das könne man nur dann verstehen, wenn man es selbst erlebt habe. "Stellen Sie sich vor, Sie gehen in ein Geschäft. Dann kommen plötzlich die Besatzer rein und laufen mit ihren auf die Menschen gerichteten Gewehren herum, weil sie jemanden suchen." Jarosch sagt, dass sie froh sei, dass sie im Internat eine Arbeit gefunden habe. Dort hilft sie bei den Renovierungsarbeiten und Dekorationen. Trotzdem fühle es sich im Moment an, als ob sie von einem Tag in den nächsten lebe. "Ich habe Freunde gefunden, und manchmal frage ich mich, ob das hier mein neues Zuhause sein wird. Aber es wird niemals dasselbe sein wie in Cherson." (Daniela Prugger aus Mykolajiw, 13.11.2023)