Angeführt von Premierministerin Elisabeth Borne und den Ex-Präsidenten François Hollande und Nicolas Sarkozy demonstrierten am Sonntag in Paris Zehntausende gegen den zunehmenden Antisemitismus. Auch andere Veranstaltungen in Städten wie Bordeaux oder Marseille richteten sich gegen die über tausend Einzelattacken gegen Juden seit dem Hamas-Anschlag des 7. Oktober in Israel.

Video: Zehntausende demonstrieren in Frankreich gegen Antisemitismus
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In allen Umzügen wurde die Marseillaise angestimmt. Der Wunsch des "Dachverbandes jüdischer Oganisationen in Frankreich" (Crif) für einen parteiübergreifenden Schulterschluss ging aber nicht in Erfüllung. Die Rechte nahm zwar geschlossen teil, die etablierte Linke aus Sozialisten, Grünen und Kommunisten nach einigem Zögern auch. Die Linksaußenpartei der "Unbeugsamen" blieb dem Umzug aber fern.

Tausende haben am Sonntag in Frankreich gegen den grassierenden Antisemitismus demonstriert.
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Ihr Chef Jean-Louis Mélenchon begründete dies mit der Anwesenheit der Rechtspopulistin Marine Le Pen. Sie war bisher noch nie an einer solchen Demo geduldet worden. Nazi-Jäger Serge Klarsfeld "beglückwünschte" sich schon im Voraus für ihre Präsenz. Die Historikerin Nonna Meyer erklärte dagegen, unter den RN-Sympathisanten und dessen Wählern gebe es gemäß übereinstimmenden Studien mehr Antisemiten als in anderen Parteien. Le Pen gibt sich umgekehrt israelfreundlicher als ihre Konkurrenten.

Mélenchon sieht "Freunde des Massakers"

Mélenchon ätzte zudem, an der Kundgebung träfen sich die "Freunde der bedingungslosen Unterstützung des Massakers", das die israelische Armee an der Bevölkerung des Gazastreifens verübe. Viele Unbeugsame beteiligten sich am Samstag in Paris lieber an einer von 16.000 Palästina-Sympathisanten besuchten Demo, die zu einer sofortigen Waffenruhe in Gaza aufrief. Ein Abgeordneter der Unbeugsamen, David Guiraud, deutete an einem Symposium in Tunesien die Hamas-Gräueltaten um, behauptete er doch an Anlehnung an klassisch antisemitische Motive: "Der Säugling im Ofen, das hat letztlich Israel gemacht, der ausgeschlitzte Bauch der Mutter, das hat Israel gemacht."

Seit dem Terror der Hamas und dem Beginn des Krieges in Gaza wurden in Frankreich mehr als tausend antisemitische Taten verzeichnet.
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Um nicht zusammen mit Le Pen demonstrieren zu müssen, aber dennoch den Antisemitismus wie jeden Rassismus zu verurteilen, trafen sich "Unbeugsame" am Sonntagmorgen bei dem früheren Sportstadion Vel d’Hiv, wo die bedeutendste "Judenrazzia" des Zweiten Weltkrieges stattgefunden hatte. Mehrere Dutzend Juden hinderten die Mélenchon-Anhänger aber an einer Kranzniederlegung. Der Crif begrüßte diese Aktion, weil die Linken-Partei "antiisraelisch" sei.

Kritik an Macron

Präsident Emmanuel Macron verzichtete nach längerem Hin und Her auf eine Teilnahme an dem Antisemitismus-Marsch. In einem offenen Brief an seine Landsleute rief er zur "Einheit der Franzosen" auf. Angesichts der zunehmenden Spannungen in Banlieue- und Einwanderervierteln meinte er fast beschwörend, Frankreich verstehe sich nicht als Zusammenschluss ethnischer oder religiöser Gemeinschaften, "sondern von Bürgern".

Kritik an Macron gab es von unerwarteter Seite. Seine Feststellung, der Kampf gegen die Hamas-Terroristen müsse "mit Rücksicht auf die internationalen und humanitären Kriegsregeln" erfolgen, weckte sofort Widerspruch in Jerusalem: Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu betonte, für sämtliche Verfehlungen sei allein die Hamas verantwortlich.

Auch Söhne und Töchter aus Frankreich im Zweiten Weltkrieg deportierter Juden beteiligten sich an den Protesten.
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Wie gespannt die Lage aber auch in Frankreich ist, illustrierte am Wochenende ein Zwischenfall in Lyon. Mehrere schwarz vermummte Angreifer versuchten in der Stadt eine Palästina-Konferenz zu stürmen. Das Innenministerium ordnet sie der Ultrarechten zu. Ein Mann wurde verhaftet. Alles in allem hat das Wochenende mit den diversen Märschen nicht zu einer Beruhigung der Lage geführt, sondern eher den Graben zwischen proisraelischen Franzosen und Propalästinensern noch vertieft. Für die Politik ist das Fazit ebenso gravierend: Die Rechts- und Linksextremisten beherrschen zunehmend die französische Politbühne. (Stefan Brändle aus Paris, 12.11.2023)