Als Dekan der juristischen Fakultät der Elite-Universität Berkeley gehört Erwin Chemerinsky zu den anerkanntesten Verfassungsrechtlern der USA. Der aus einer jüdischen Familie stammende 16-fache Buchautor ist ein Linksliberaler. Er hat für das Abtreibungsrecht gekämpft und 2017 den damaligen Präsidenten Donald Trump verklagt. Im Gegensatz zum israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu, den er scharf kritisiert, unterstützt er eine Zweistaatenlösung im Nahen Osten.

Trotzdem sieht sich Chemerinsky plötzlich Anfeindungen ausgesetzt. Studenten unterstellen ihm, "Teil einer zionistischen Verschwörung" zu sein. Entsetzt wandte sich der Professor vor einigen Tagen an die Öffentlichkeit: "Ich bin ein 70-jähriger jüdischer Mann", schrieb er in einem Gastbeitrag für die Los Angeles Times. Als Schüler sei er als "dreckiger Jude" beschimpft worden: "Aber niemals in meinem Leben habe ich den Antisemitismus der vergangenen Wochen erlebt."

Campus im Ausnahmezustand

Seit dem Massaker der islamistischen Hamas an mehr als 1200 Israelis am 7. Oktober befinden sich viele amerikanische Hochschulen im Ausnahmezustand. Das vermeintliche Campus-Idyll ist offener Feindseligkeit gewichen. Muslimische Studierende fühlen sich in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt, jüdische Kommilitoninnen und Kommilitonen haben Angst um ihre Sicherheit. Nirgendwo zeigt sich der Konflikt so stark wie an den liberalen Elite-Universitäten, wo linke Aktivisten Israel als letzte weiße Kolonialmacht sehen und sich in die Unterstützung für die Palästinenser teilweise auch Antisemitismus mischt.

Protestmarsch von Columbia-Studierenden in New York Mitte Oktober.
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Das Hamas-Blutbad lag kaum zwei Tage zurück, als sich 30 Studierendengruppen der renommierten Harvard-Universität mit einer Erklärung zu Wort meldeten, in der sie Israel "allein verantwortlich" für den Terroranschlag machten. Kurz darauf feierte eine Studentengruppe an der Columbia-Universität in New York das Massaker als "beispielloses Ereignis" im Widerstand gegen den "Siedler-Kolonialismus". Ein Junior-Professor der angesehenen Cornell-Universität im selben Bundesstaat nannte die Hamas-Attacke "anregend" und "beglückend". In Washington projizierten propalästinensische Aktivisten nachts Parolen auf die Außenwand der George-Washington-Universität: "Ruhm für unsere Märtyrer", stand darauf.

Es bleibt nicht bei verbalen Ausfällen. Am Cooper Union, einem privaten College in Manhattan, mussten sich jüdische Studierende in einer Bibliothek verschanzen, während zwei Dutzend propalästinensische Demonstranten gegen die Tür schlugen. Im Netz sorgt das Video eines verängstigten jüdischen Studenten der Harvard-Universität für Empörung, der am Rande einer propalästinensischen Kundgebung von Personen mit Palästinensertüchern umzingelt und eingeschüchtert wird. Die jüdische Campus-Organisation Hillel hat im vergangenen Monat 309 antisemitische Vorfälle an US-Universitäten von Hassreden über Vandalismus bis zu Angriffen gezählt – sechsmal so viele wie vor einem Jahr.

Hilflose Spitzen

Derweil rangen die Spitzen vieler Hochschulen anfangs recht hilflos um eine angemessene Reaktion. Die im ersten Verfassungszusatz prominent verankerte freie Meinungsäußerung genießt in den USA einen sehr hohen Rang. "Die Stimmung ist derzeit sehr brisant", warnt daher Alex Morey, die Vorsitzende der Bürgerrechtsorganisation Foundation for Individual Rights and Expression, vor Überreaktionen und Zensur. Dem hielten drei Studenten von Eliteunis an diesem Samstag in einem Gastbeitrag für die New York Times entgegen: "Die Schikanierung durch einen Mob darf nicht mit freier Meinungsäußerung verwechselt werden."

Inzwischen haben die Hochschulen die antisemitischen Parolen verurteilt und bei den tätlichen Vorfällen das FBI eingeschaltet. Doch nun kommen sie von anderer Seite gewaltig unter Druck: Milliardenschwere Geldgeber, ohne deren Unterstützung die Eliteunis nicht existieren könnten, streichen aus Protest ihre Zuwendungen. So liegt die University of Pennsylvania derzeit 500 Millionen Dollar unter ihrem Einnahmenziel, die Columbia University hat ihre jährliche Spendengala ganz abgesagt, und auch Harvard sind wichtige Unterstützer abgesprungen.

Noch härter könnte die Karriereschmieden eine andere Drohung treffen. Hedgefonds-Milliardär Bill Ackman, ein Harvard-Alumni, will mit anderen Managern die Namen von Studierenden veröffentlichen, die einseitig Israel für den Nahostkrieg verantwortlich machen. Diese Aktivisten dürften es bei künftigen Bewerbungen schwer haben. "Niemand von uns sollte sie aus Versehen einstellen", warnte Ackman. (Karl Doemens aus Washington, 13.11.2023)