Brüssel goes Berlin. So könnte man das Motto des informellen Treffens von einem Viertel der EU-Staats- und Regierungschefs Montagabend in der deutschen Hauptstadt nennen. Neben Kanzler Olaf Scholz und Bundeskanzler Karl Nehammer nehmen noch die Premiers von Griechenland, Belgien, Zypern, Litauen und Ungarn teil. Eingeladen hat aber nicht der Deutsche Scholz, sondern der Ständige Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel.

Ihm fällt generell die Aufgabe zu, als "Chef der Chefs" die EU-Gipfeltreffen zu organisieren, die Inhalte der Tagesordnung vorab festzulegen. Der nächste Gipfel findet kurz vor Weihnachten statt. Es wird die letzte Gelegenheit sein, vor dem Start des Europawahlkampfs 2024 die wichtigsten offenen politischen Vorhaben abzuschließen, voran das Migrations-/Asylpaket und eine Revision des langfristigen EU-Budgetrahmens bis 2027.

Deutschlands Kanzler Scholz hat zwar nicht eingeladen, ist aber Gastgeber der Runde.
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Nicht nur in diesen beiden Feldern sind die Staaten bisher uneinig bis zerstritten. Genau deshalb will Michel nun in kleineren Kreisen als sonst in Brüssel Annäherungen erzielen. Die acht Staatsmänner sollen bei einem Abendessen an einer gemeinsamen "strategischen Ausrichtung" der Gemeinschaft arbeiten, sprich: an der "großen politischen Linie" der Union bis zum Jahr 2030.

Polen und Ungarn bremsten

Die ersten Pflöcke dazu wurden bereits Anfang Oktober im spanischen Granada eingeschlagen. Dort legten sich allerdings Polen und Ungarn massiv gegen Pläne quer, die Migrations- und Asylpolitik zu vertiefen und gleichzeitig schärfere Maßnahmen gegen illegale Migration einzuleiten. Sie fürchten eine künftige EU-weite Lastenverteilung bei Asylwerbern, sei es durch Umsiedelung, sei es durch Kostenübernahme.

In Berlin soll nun neuerlich das Thema Migrationspolitik zur Sprache kommen, in der Hoffnung, dass es bis Jahresanfang gelingen könnte, mit dem Europäischen Parlament Lösungen zu finden. Die meisten Regierungschefs setzen auf stärkeren Schutz der EU-Außengrenzen und wollen dort Aufnahmezentren errichten, in denen Asylverfahren abgewickelt werden. Auch an Lager in Drittländern ist gedacht.

Nehammer fordert "ehrlichen Ansatz"

Zweites großes Thema ist die EU-Erweiterung. In Granada hat Michel bereits die Vorgabe gemacht, dass es bis zum Jahr 2023 weitere erste Aufnahmen von neuen EU-Mitgliedsländern geben soll, insbesondere vom Westbalkan mit sechs Bewerberländern. Die EU-Kommission hat zuletzt vorgeschlagen, umgehend auch mit der Ukraine und mit der Republik Moldau Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Dass diese beiden Länder früher als in zehn, zwanzig Jahren Vollmitglieder werden, gilt als unwahrscheinlich. Die Regierungschefs dürften aber beim Dezembergipfel der Empfehlung der Kommission folgen, sofern der Ungar Viktor Orbán kein Veto einlegt. Er hat aber ein solches bereits angekündigt.

Österreichs Kanzler Karl Nehammer trat in Berlin wie so oft für einen "Paradigmenwechsel" bei der Migrationspolitik ein und für einen "ehrlichen Ansatz" bei der EU-Erweiterung. Die EU solle sich mehr um die großen Fragen kümmern, und nicht um die Festlegungen bis ins kleinste Detail, solle sich bei kleineren Fragen zurücknehmen, fordert er. Nehammer sieht eine immer stärker werdende Allianz unter seinen Kollegen in Sachen Migration. "Wir brauchen eine gesicherte Kontrolle darüber, wer die EU-Außengrenzen überquert und eine verstärkte Zusammenarbeit mit Drittstaaten", hieß es im Vorfeld. Kontrollverlust könne sich die Union nicht leisten. Das Asylsystem sei kaputt, so der Kanzler. Was die Erweiterung betrifft, wünscht Nehammer sich mehr Unterstützung für die Beitrittsperspektiven der Länder des Westbalkans. (Thomas Mayer, 13.11.2023)