Historisch gesehen haben Russlands Niederlagen in Kriegen außerhalb des eigenen Landes, wie etwa im Russisch-Japanischen Krieg der Jahre 1904–1905 sowie im Ersten Weltkrieg und bei der Invasion in Afghanistan 1979–1989, zu inneren Unruhen geführt, die schließlich einen Regimewechsel zur Folge hatten. Der grundlose Angriff des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf die Ukraine hat die Angst vor einer Neuauflage dieser Entwicklung geschürt, wobei die atomare Gefahrenlage diesmal weitaus größer ist als jene nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Die Aussichten präsentieren sich beunruhigend. Sollte das Debakel in der Ukraine Putins Legitimität im eigenen Land zerstören, stellt sich die Frage, wie die Vereinigten Staaten (und die Welt insgesamt) auf die Gefahr "vagabundierender Atomwaffen" oder eines rachsüchtigen Anführers reagieren sollten, der mit dem Finger auf dem roten Knopf dem Untergang entgegengeht.
Die Antwort ist nicht eindeutig, aber ein möglicher Weg in die Zukunft eröffnet sich aus unerwarteter Quelle: nämlich aus der Manöverkritik zum Afghanistan-Einsatz After Action Review on Afghanistan des US-Außenministeriums. In dem im Juni veröffentlichten, nicht als geheim eingestuften Bericht werden die Lehren aus dem verpfuschten Ende des US-Militäreinsatzes in diesem Land gezogen und eine Vorlage für bessere Krisenplanung vorgelegt.

Die Gefahr, dass Atomwaffen aufgrund innerstaatlicher Konflikte in die falschen Hände geraten, besteht freilich schon seit langem. Als die UdSSR zerfiel, befürchtete der damalige US-Außenminister James Baker angesichts der drohenden Gewalt zwischen den Teilrepubliken, dass dort ein "Jugoslawien mit Atomwaffen" entstehen könnte.
Tatsächlich versuchten Regimegegner 1990, in der Nähe von Baku Atomwaffen in ihre Gewalt zu bringen. Im darauffolgenden Jahr, als ein gescheiterter Putsch gegen Michail Gorbatschow den sowjetischen Staatschef von der Befehlskette abschnitt, fielen dessen entsprechende Befugnisse an das mit den Putschisten verbandelte Militärpersonal. Derartige Risiken bestehen überdies nicht nur in Russland. In Zeiten innerer Unruhen gab es auch in Algerien, China und Pakistan Versuche, Atomwaffen zu beschlagnahmen.
"Würden sich Putin und seine Getreuen im Falle einer Niederlage in der Ukraine oder ernsthafter innenpolitischer Unruhen einfach zurücklehnen und die Niederlage akzeptieren, oder würden sie Rache am Westen üben?"
Dass keiner dieser Versuche erfolgreich war, ist auf eine Kombination von Faktoren zurückzuführen, die von wirksamen Abwehrmaßnahmen bis hin zur Zurückhaltung der verschiedenen Kontrahenten reichen. Dies lässt darauf schließen, dass künftige politische Turbulenzen in Russland die Sicherheit des größten Atomwaffenarsenals der Welt nicht zwangsläufig gefährden würden. Tatsächlich wird dieses Thema im jüngsten, aus dem Jahr 2022 stammenden Atomwaffenbericht Nuclear Posture Review des US-Verteidigungsministeriums ebenso wenig erwähnt wie in der jährlichen Bewertung der Bedrohungslage durch die US-Geheimdienste vom Februar 2023.
Der gescheiterte Aufstand der Wagner-Gruppe im Juni hat jedoch die Befürchtungen hinsichtlich der Schwachstellen des russischen Arsenals wiederaufleben lassen: Die Söldner des verstorbenen Jewgeni Prigoschin sollen sich dem Atomwaffenlager Woronesch-45 genähert haben. Auf die Fragen, ob die USA auf den Sturz der Regierung Putin vorbereitet seien und ob Russlands Atomwaffenbestände sicher seien, antwortete US-Außenminister Antony Blinken kurz nach der Revolte: "Wir bereiten uns stets auf alle Eventualitäten vor. Was in Russland passiert, ist eine innere Angelegenheit, die die Russen zu regeln haben."
Interne Bruchlinien
Abgesehen von der Unklarheit des Begriffs "alle Eventualitäten" sind drei Szenarien denkbar, die zu einem nuklearen Konflikt führen könnten: eine Palastrevolte, eine feindliche Übernahme einer Atomwaffenbasis und nuklearer Selbstmord. Am wenigsten beunruhigend präsentiert sich das erste Szenario. Sollten Russlands oberste Militärs oder Sicherheitsdienste Putin entmachten und die Kontrolle über strategische und taktische Atomwaffen erlangen, würde der nukleare Status quo wahrscheinlich erhalten bleiben. Im Falle interner Bruchlinien könnte es allerdings zu Befürchtungen hinsichtlich der Absichten – und somit der Befehls- und Kommandostrukturen – kommen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass nicht befugte Akteure – seien es abtrünnige Militäreinheiten, Privatarmeen oder unzufriedene Angehörige ethnischer Minderheiten – eine intakte Kernwaffe erbeuten und zur Explosion bringen, ist äußerst gering, aber nicht gleich null. Dazu müssten zahlreiche Sicherheitsstufen überwunden werden, angefangen bei den Verteidigungseinheiten an den Nuklearstandorten.
Außerdem werden die meisten taktischen Atomwaffen, mit der relevanten Ausnahme der Gravitationsbomben, in nicht zusammengebautem Zustand gelagert und verfügen über digitale Sperren, die eine Detonation verhindern. Und schließlich könnten derartige Waffen zwar von Flugzeugen, Lastwagen oder Schiffen aus eingesetzt werden, doch die für den Raketenabschuss notwendige Montage erfordert die Zusammenarbeit mit der für die Verwaltung des Atomwaffenarsenals zuständigen Direktion des russischen Verteidigungsministeriums. Falls sich diese Koordinationsprobleme jedoch lösen lassen, könnten die Folgen katastrophal sein.
Nicht unplausibel
Das beunruhigendste Szenario ist eine Putin-Götterdämmerung. Seit Jahren beklagt Putin den Untergang der Sowjetunion, den er bekanntlich als "die größte geopolitische Katastrophe des (20.) Jahrhunderts" bezeichnete, und beharrt darauf, dass die Ukraine Teil des russischen "Mutterlandes" sei. Würden sich Putin und seine Getreuen im Falle einer Niederlage in der Ukraine oder ernsthafter innenpolitischer Unruhen einfach zurücklehnen und die Niederlage akzeptieren, oder würden sie Rache am Westen üben, auch in Form eines nuklearen Schlags?
Manche werden sagen, derartige Szenarien seien eher ein Fall für Drehbuchautoren als für politische Entscheidungsträger. Doch im 21. Jahrhundert sind bereits eine Reihe zuvor unvorstellbarer Ereignisse eingetreten: die Anschläge vom 11. September, der Arabische Frühling, der Aufstieg des IS, die Rückkehr des Stellungskriegs, wie er im Ersten Weltkrieg geführt wurde, und jüngst der Angriff der Hamas auf Israel. Vor diesem Hintergrund erscheint die potenzielle nukleare Bedrohung durch Russland nicht mehr unplausibel.
Das Hauptproblem besteht darin, dass es an politischen Instrumentarien zur Verringerung der atomaren Risiken fehlt, die sich aus internen Umwälzungen in einem anderen Land ergeben. Amerikas einziger Erfolg in dieser Hinsicht – auch wenn es sich dabei um Massenvernichtungswaffen im weiteren Sinne handelte – war die Eliminierung eines Großteils der syrischen Chemiewaffen durch militärische Einschüchterung im Jahr 2013. Dieser Ansatz funktionierte, weil die syrische Regierung keine Möglichkeit zur Vergeltung hatte und der Kreml nicht bereit war, die USA im Namen seines Verbündeten herauszufordern. Heute ist es jedoch vorstellbar, dass ein angeschlagenes Russland auf die nukleare Option zurückgreift, wenn die USA eine militärische Drohung aussprechen.
Nato einbeziehen
Die amerikanischen Entscheidungsträger müssen also von vorn anfangen. Glücklicherweise bietet der Bericht des Außenministeriums über den chaotischen Rückzug des Landes aus Afghanistan Empfehlungen zur Verbesserung der Krisenplanung. Darin wird die Einrichtung eines "roten Teams" gefordert, "um grundlegende politische Annahmen zu hinterfragen, insbesondere solche, die sich auf die Notfallplanung auswirken", und es soll sichergestellt werden, dass "hochrangige Beamte mit einem möglichst breiten Spektrum an Ansichten vertraut gemacht werden, darunter auch solche, die operative Annahmen oder die Sinnhaftigkeit wichtiger politischer Entscheidungen infrage stellen." Um ein "Muskelgedächtnis" aufzubauen, ist die Beteiligung des Präsidenten an vorbereitenden Maßnahmen – etwa an Simulationen – unerlässlich. Um überdies Gruppendenken zu vermeiden, gilt es, versierte Außenstehende, darunter auch Nato-Vertreter, in die Vorbereitung auf künftige Worst-Case-Szenarien einzubeziehen.
Es wäre naiv, darauf zu hoffen, dass die russische Regierung oder die US-Diplomatie im Falle einer ernsthaften Bedrohung für Putins politisches Überleben einen Atomkrieg verhindern würden. Die Gefahr, dass Russlands Ungemach in der Ukraine in nuklearem Nihilismus gipfeln könnte, erfordert nicht weniger als eine systematische Überprüfung der amerikanischen Optionen. (Bennett Ramberg, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 15.11.2023)