Eine der Motivationen, diesen Blog zu beginnen, war die Tatsache, dass Mediation in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch ein Schattendasein fristet und bestenfalls als "Alternative zum Gericht" gesehen wird. Manchmal vergehen Jahre vom Ursprung eines Konflikts, bis endlich der Teufelskreis der Eskalation durchbrochen wird und das Rad der Zeit zurückgedreht werden kann. Es ist verständlich, dass die fatale Konflikteskalationsdynamik erst einmal unerbittlich ihren Weg findet, die Lebenspraxis lässt hier die lehrbuchmäßige Hoffnung hinter sich. Und doch sei dieser Beitrag vielleicht ein kleines Plädoyer für eine Durchbrechung dieser Eskalationsspirale.

"Ja wissen S', damals, als die Leut vor zwei Jahren eingezogen sind, hat das Ganze schon begonnen, wenn man denen damals erklärt hätte, was die Hausordnung bedeutet, wär sicher alles besser geworden", so die lärmgeplagte Beschwerdeführerin Ja, wäre, hättiwari und vielleicht. Natürlich schwelgen wir bei retrospektiven Betrachtungen oftmals in Fantasien und Wünschen. Wenngleich im besten Fall aus den Versäumnissen der Vergangenheit eine Lehre für die Zukunft gezogen werden kann, so hilft die Erkenntnis über die Fehler von vor zwei Jahren nur bedingt hinweg, wenn plötzlich dann ein jahrelang schwelender Konflikt eskaliert. Hat der Druckkochtopf zu lange auf mittlerer Flamme gekocht, ohne dass ein pfeifendes Zischen in Form einer deeskalativen Intervention den Stress aus der Situation genommen hat, so ist der Gang ins nächstgelegene Polizeikommissariat oftmals subjektiv noch der mildeste Ausweg. Und doch hebt man dadurch den Konflikt auf eine neue, noch höher eskalierte Ebene, von der aus sich eine Win-win-Situation noch schwerer erreichen lässt. Auch Unterschriftenlisten unter den Nachbarn und Nachbarinnen, anonyme Schreiben mit der mehr oder weniger freundlichen Bitte um Einhaltung der Nachtruhe, Anrufe bei der Hausverwaltung oder all die anderen üblichen Versuche, auf die oftmals monate-, ja manchmal jahrelangen Ruhestörungen zu reagieren, sind verständlich. Verständlich und nachvollziehbar, doch sind sie zielführend?
Erste Beschwerde Dezember 2020, nächster Anruf bei Hausverwaltung Juni 2021, Brief an die Parteien mit Bitte um Einhaltung der Hausordnung Oktober 2021. Erneuter Anruf bei Hausverwaltung Mai 2022, Brief mit Erwähnung der rechtlichen Aspekte Oktober 2022 und so weiter. So ähnlich hören sich manchmal die Schilderungen der Verwalter an, wenn sie einen Fall dann doch an die Mediation weiterreichen. Wie viel Stress, Wut, Unverständnis und Eskalation ist dann schon geschehen, wie viel Energie muss erst wieder aufgewendet werden, um all jene Barrieren zwischen den Parteien abzubauen. Ja, die Mediation basiert auf dem Prinzip der Freiwilligkeit (mit diversen Ausnahmen bei Lehrlingsmediation, durch die Bäume und Sträucher der Nachbarschaft1, dem Tatausgleich im strafrechtlichen Bereich und manchmal auch familiengerichtlichen Themen), doch wäre es schlicht fein, wenn diese Freiwilligkeit etwas früher einsetzen würde.
Um das Thema auch noch anhand anderer Beispiele zu verdeutlichen, folgt ein weiterer (etwas anonymisierter) Fall.
Konflikte am Arbeitsplatz
Das einst kleine Team ist rasch gewachsen. Vom Start-up mit zwei Personen folgt erst eine Steigerung auf zehn, nun sitzen schon 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Großraumbüro und arbeiten die Projekte ab, die immer wieder aufgrund des herausragenden Rufes der Firma die Auftragsbücher füllen. Immer wieder wechseln Mitarbeitende in das Unternehmen, so spannend klingen die Aufgaben, so interessant die Ausrichtung des ganzen Teams. Doch gelegentlich ist unter der Oberfläche eine Spannung zu merken. Nicht schlimm und schon gar nicht störend. Und doch fallen manche Pausen in der Kaffeeküche etwas länger aus, finden Rauchpausengespräche gelegentlich so statt, dass die Tabakgenießer und Tabakgenießerinnen ungestört und vor allem unbelauscht neben dem Genuss auch einem Gespräch nachgehen können.
Die eine oder andere Gruppe hatte sich schon länger gebildet, doch hat sich im letzten halben Jahr die Dynamik verstärkt. Ein Kollege, der bisher immer ein wertvoller Vermittler zwischen den Abteilungen war, verschließt sich nun den Gesprächen, nutzt in auffälliger Häufigkeit die Möglichkeit des Homeoffice. Die Geschäftsleitung versucht in bilateralen Gesprächen ihr Bestes, doch bald werden schon diverse Informationen nur noch in den Kleingruppen geteilt, werden die After-Work-Treffen nicht mehr in der großen Runde kommuniziert, sondern im kleinen Kreis vereinbart.
Im Endeffekt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Aufträge darunter leiden und dann einmal ein Sündenbock gekürt werden muss. Irgendwann dann wird wohl auch der Ruf nach einer externen Intervention, einer Moderation, Mediation oder einer Unternehmensberatung laut, um die Scherben aufzukehren und den Ruf des Unternehmens zu retten. Wäre es nicht besser, hier ein offenes Ohr für die internen Dynamiken zu haben und schon ein Feingefühl für die ersten Misstöne zu entwickeln?
Früher deeskalieren lohnt sich
Verhärtete Fronten sind legitimer Bestandteil des Arbeitsalltags in der Mediation. Das Wissen um die Konflikteskalationsdynamik, die Friedrich Glasl so anschaulich in einem sehr übersichtlichen Stufenmodell dargestellt hatte, hilft beim Verständnis dieser fatalen selbstverstärkenden Abwärtsspirale. Je weiter die Treppe in den Lose-lose-Keller hinabführt, umso schwieriger werden die Schritte, um aus den Tiefen der gegenseitigen Abwertung wieder zu einem konstruktiven Gesprächsklima zu kommen, doch genau dies ist nun einmal unsere Aufgabe als Mediatorinnen und Mediatoren. Ein klein wenig Unterstützung wäre dann gegeben, wenn jene Player, die mit den diversen Konflikten beschäftigt sind, nicht erst angesichts der Aussichtslosigkeit anderer Bemühungen auf die Wege der Mediation aufmerksam machen würden. Es wäre zumeist lebensfremd, zu hoffen, dass die Parteien selber in ihrem Emotionstunnel, im Sprung über die Glasl'schen Stufen plötzlich selber den Blick auf die gemeinsamen Ziele richten, anstatt den Sieg über den Widerpart anzuvisieren.
Je früher nun in der Deeskalation angesetzt wird, umso weniger verfährt sich die Situation in eine Eskalationssackgasse. Je eher die Mechanismen der fatalen Abwärtsbewegung durchbrochen werden können, umso weniger Energie muss dafür aufgewendet werden, um gegen den Strom zu schwimmen. Doch erst müssen diese Mechanismen erkannt werden. Will ich noch mit meinem Gegenüber sprechen oder versuche ich, den Kontakt zu meiden? Geht es mir noch um die Sache, oder schon um eine "die, den mach ich fertig"-Haltung? Bin ich noch in der Lage, Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen, oder geht es mir nur noch um die Bestätigung meines Standpunktes? Hierzu nun ein Beispiel aus der Praxis.
Frau E. und die Studenten
Ja, es stimmte schon, dass Frau E. durch die Studentenparty, die in der Nachbarwohnung stattgefunden hatte, in ihrer wohlverdienten Nachtruhe gestört wurde. Und genauso war es nachvollziehbar, dass sie dann recht angespannt um 23 Uhr an die offene Türe klopfte und lautstark ihre Nachtruhe einforderte. Ja, die Studenten hatten sich daraufhin auch entschuldigt, doch bestätigte der Müllsack vor der Wohnungstür Frau E. nur in ihrer Meinung, dass die Hausverwaltung hier wohl einen schlechten Griff in der Wahl der Mieter getan hatte. Fortan war sie auf der Lauer, ihre Gedanken kreisten fast nur noch um die Nachbarn. Trugen sie dem Mist korrekt hinunter? Kam der süßliche Geruch nicht doch von deren Türe und, vor allem, war denn wirklich um 22.01 Uhr noch ein Ton zu hören?
Ja, manchmal waren Schritte zu vernehmen, dann ein emotionales Telefonat oder die WC-Spülung. All diese Geräusche wuchsen in der Wahrnehmung von Frau E. zum Angriff auf ihre Nachtruhe, der schließlich darin gipfelte, dass am Semesterende wieder eine Studentenparty angekündigt wurde. Diesmal zwar mit Aushang im Haus mit der Bitte um Verständnis und einer Einladung an alle Nachbarn und Nachbarinnen, aber all diese Gesten konnten Frau E nicht besänftigen. Die Polizei musste her, doch verließen die Beamten das Haus wieder unverrichteter Dinge, zumal sie schon um 21 Uhr gerufen wurden und sie noch keine Störung der Nachtruhe feststellen konnten. Frau E war konsterniert, frustriert und schäumte mehr oder weniger vor Wut.
Aus einer – zugegebenermaßen etwas idealisierten, mediatorischen – Sicht betrachtet: Was war geschehen? Die Nachbarn hatten im Juni (Semesterende) und Oktober (Semesteranfang) eine Party veranstaltet. Nein, diese Party war nicht im Rahmen der Hausordnung, sie war auch anderen Mietern und Mieterinnen sauer aufgestoßen. Doch was wäre gewesen, wenn man gleich ein Gespräch gesucht hätte? Wenn beide Nachbarn nicht gewartet hätten, dass sich die Geschichte von selber in Wohlgefallen auflöst (das tun Konflikte eher selten), sondern aktiv ein nachbarschaftliches Gespräch gesucht hätten? Wie viele Sorgen hätten sich E. erspart, wie viele schlaflose Nächte, in denen sie einfach nur in Erwartung eines Kraches wach gelegen war, um drei Tage darauf in ihrer Erwartungshaltung durch ein herabfallendes Smartphone bestätigt zu werden.
Hätten es beide Seiten geschafft, sich schon nach dem ersten Kontakt auf einer bedürfnisorientierten Ebene zu unterhalten, so hätten auch die Studenten von der Erfahrung von Frau E. als emeritierte Universitätsprofessorin profitieren können, genauso, wie Frau E. (wie übrigens in der Mediation vereinbart) sich dann die Technikaffinität der studierenden Nachbarn schon viel früher hätte zunutze machen können. So gelang es einer der Studentinnen mit wenigen Handgriffen, die Einstellungen des Smartphones der Nachbarin entsprechenden deren Wünschen zu ändern, woran diese wochenlang gescheitert war
Freude über Konflikte, die mich nicht brauchen
Let's be honest, es ist das Geschäft der Mediation, Konflikte zu deeskalieren, daher wirkt der Gedanke nahezu geschäftsschädigend, den Abstieg auf der Eskalationstreppe bremsen zu wollen. Doch ganz so ist es nicht. In einer Gesellschaft, in der der Begriff des "Hasses" schon auf Butterbrote und Nieselregen bezogen wird, in der die Redewendung "schlag mich tot" in Alltagsgesprächen wie selbstverständlich einfließt, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, dass Konflikte ausgehen. Vielmehr ist ein jeder Streit, ein jeder Konflikt, der auch ohne Beiziehung professioneller Konfliktmanager und Konfliktmanagerinnen ausgeredet werden kann, ein Gewinn für die Gesellschaft. Schaffen es Partner und Partnerinnen, über ihre Eigenheiten zu lachen und über die "Spezialitäten" der anderen Person zu schmunzeln, so lernen es auch die Kinder von ihnen und tragen diese Fähigkeiten in die Schule.
Ich wage zu behaupten, dass sich auch meine Kolleginnen und Kollegen zwar über jeden Auftrag freuen, jedoch sicherlich noch mehr, wenn wir nicht gebraucht werden, weil unsere Arbeit dahingehend Früchte getragen hat, dass wir nicht mehr benötigt werden. Wenn Konflikte rechtzeitig als Missverständnisse identifiziert und ausgeredet werden können, besteht dahingehend eine nicht nur geringe Chance. (Ulrich Wanderer, 20.11.2023)