Albin Kurti im STANDARD-Interview.
Kosovo-Premier Albin Kurti wirft dem Westen eine zu sanfte Haltung gegenüber Serbien vor.
AP/Visar Kryeziu

Seit einem Jahr, seit die serbischen Vertreter die Institutionen des Kosovo im Norden des Landes auf Geheiß der serbischen Regierung verließen, ist der südosteuropäische Staat im Krisenmodus. Russland profitiert von dieser Destabilisierung. Der kosovarische Premier Albin Kurti, der in Wien am Renner-Institut über die geopolitischen Interessen auf dem Balkan referierte, warnt im STANDARD-Interview davor, dass der Westen die Beschwichtigungspolitik gegenüber Serbien fortsetzt.

STANDARD: Wann werden Neuwahlen im Norden Kosovos stattfinden, damit in den vier mehrheitlich von Serben und Serbinnen bewohnten Gemeinden wieder serbische Bürgermeister ins Amt kommen?

Kurti: Laut dem Gesetz zur lokalen Selbstverwaltung müssen 20 Prozent der Wähler einer Gemeinde dafür eine Petition einreichen. Dieser rechtliche Weg wurde auch von den internationalen Mediatoren akzeptiert, nachdem sie sich am 22. Juni dieses Jahres mit dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić getroffen haben. Es hängt jetzt also von den Bürgern im Norden ab, ob es Wahlen gibt. Ich kann das nicht in ihrem Namen tun. Denn nur so, stellen wir auch sicher, dass es nicht wieder zu Boykotten kommt. Im März hat die Partei "Srpska Lista" die Wahlen ja boykottiert.

STANDARD: Was können Sie tun, um mehr Vertrauen der Serben im Norden Kosovos zur kosovarischen Regierung zu schaffen?

Kurti: Ich möchte im Norden nicht vier albanische Bürgermeister haben, das ist nicht mein Ziel und es macht mir auch keinen Spaß. Denn aufgrund der geringen Wahlbeteiligung haben diese Bürgermeister wenig politische Legitimität, obwohl sie völlig legal sind. Um dies zu ändern, brauchen wir aber eine Mobilisierung von unten und Belgrad muss das Mobbing stoppen. Ich habe im Sommer deeskaliert und die Polizei wurde vor den vier Gemeindeämtern im Norden zur Hälfte abgezogen. Doch am 24. September kam es dann wieder zu einer Eskalation. Belgrad ist an einer demokratischen Beteiligung der Serben im Kosovo nicht interessiert, denn es will eine territoriale Entschädigung für den Verlust Jugoslawiens.

STANDARD: Welche Initiativen haben sie für den Norden Kosovos gestartet?

Kurti: Es gibt 47 neu rekrutierte serbische Polizisten. Die Regierung hat drei Millionen Euro für die Landwirtschaft, Start-ups und NGOs im Norden vergeben. Ich war schon ein paar Mal im Norden Kosovos und ich treffe mich mit Serben, aber diese Treffen werden nicht publik, weil die Leute mich darum bitten. Denn ihre Familien und Kinder werden unter Druck gesetzt. Ein Serbe, den ich zu meinem politischen Berater ernannte, trat nach zwei Stunden zurück, weil seine Frau sofort wegen seines Engagement die Hälfte ihres Gehalts verlor. Allein in diesem Jahr wurden 15 Autos im Norden angezündet, die kosovarische Kennzeichen trugen. Das ist ein hybrider Krieg, ich bin jeden Tag auf der Titelseite der serbischen Zeitung Politika.

STANDARD: Viele Serbinnen und Serben im Norden suchen nun zumindest um die kosovarischen Nummerntafeln an.

Kurti: Ja, es waren über 1000 in einer Woche. Wir haben wegen dieses Ansturms den Anmeldeschluss verschoben und sie auch von der Zahlung von Abgaben befreit. Ein paar Tausend haben aber noch serbische Nummerntafeln.

STANDARD: Jüngst kamen der serbische Präsident Aleksandar Vučić und Sie wieder nach Brüssel, wo auch ein Vorschlag für ein Verband der mehrheitlich serbischen Gemeinden vorgelegt wurde, der bereits 2013 vereinbart wurde. Es kam jedoch zu keiner Einigung. Weshalb?

Kurti: Ich wollte sowohl das Rahmenabkommen mit Serbien, als auch diesen Vorschlag für den Gemeindeverband unterschreiben. Aber Vučić wollte, dass Serbien und Kosovo getrennt voneinander, jeweils mit der EU unterschreiben. Ich muss aber nicht die Beziehungen zur EU normalisieren, sondern ich muss die Beziehungen zu Serbien normalisieren! Vučić hat zudem einen Sideletter verlangt, in dem stehen sollte, dass Serbien niemals die Unabhängigkeit des Kosovo anerkennen wird, dass Kosovo keinen Platz in den Vereinten Nationen erhalten soll und dass Serbien die territoriale Integrität des Kosovo nicht akzeptieren wird.

STANDARD: Letzteres ist das Gegenteil von dem, was in dem Rahmenabkommen steht. Und wie haben die EU-Verhandler reagiert?

Kurti: Die Verhandler haben mich gefragt, was ich davon halte. Und ich habe gesagt, dass der Schiedsrichter pfeifen sollte, wenn es einen Verstoß gegen die Vereinbarung gibt. Wann immer immer Belgrad gegen die Vereinbarung verstößt, wird nicht gepfiffen. Können Sie sich einen Schiedsrichter auf der grünen Wiese vorstellen, der die Pfeife irgendwo auf dem Spielfeld verloren hat und nun einfach den Spielern hinterherläuft? Man will Serbien auch dann nicht Vorwürfe machen, wenn es gegen die Vereinbarungen verstösst.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der kosovarische Premier Albin Kurti.
Schwierige Verhältnisse: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Kurti. EU-Vertreter werfen ihm eine Eskalationspolitik vor.
AFP/ARMEND NIMANI

STANDARD: Weshalb verhalten sich die Verhandler so?

Kurti: Das hat wohl mit der Beschwichtungshaltung zu tun.

STANDARD: Oder damit, dass die EU Lithium aus Serbien haben will.

Kurti: Das weiß ich zwar nicht, glaube es aber auch nicht. Sollte es so sein, müsste man uns erzählen, wie man die Welt mit dem Lithium aus Serbien retten will. Sicher ist nur: Es gibt einen Song von Nirwana namens "Lithium".

STANDARD: Welche Rolle spielt der Westen in dem Konflikt?

Kurti: Im März letzten Jahres sagten mir viele meiner internationalen Freunde, ich solle Serbien gegenüber vielleicht nicht allzu hart sein, weil sie nach ihren Wahlen am 3. April Sanktionen gegen Russland verhängen würden. Die Wahlen sind über anderthalb Jahre her und es gibt noch immer keine Sanktionen. Wir dürfen nicht die Fülle an historischen und kulturellen, sowie militärischen Geheimdienst- und Energieverbindungen zwischen Serbien und Russland unterschätzen. Serbien macht Appeasement-Politik gegenüber Russland.

STANDARD: Und der Westen macht Appeasement gegenüber Serbien.

Kurti: Weil der Westen so sanft gegenüber Serbien ist, drängt er Serbien aber paradoxerweise in Richtung Russland, obwohl sicher das Gegenteil beabsichtigt wird. Belgrad hat jedoch mehr Liebe für und mehr Angst vor Moskau als vor Brüssel. Russland ist jedenfalls besessen von Kosovo. Putin kam im August 1999, zwei Monate nach der Befreiung Kosovos an die Macht. Er und Außenminister Sergej Lawrow erwähnen Kosovo ständig. Am 29. Mai, als serbische Milizen Kfor-Soldaten angriffen und verletzten, verlautbarte Lawrow, dass die Lösung für Kosovo eine geopolitische sein müsse und dass ein Block den anderen nicht dominieren könne. Er benutzte die Worte "auf diesem Teil des Planeten", so als ob er von der russischen Weltraumstation Mir herabschauen würde, wie in einem Stanley Kubrick Film, also von einem kosmischen Standpunkt.

STANDARD: Offenbar bringt die russische Führung den Krieg gegen die Ukraine und Kosovo in Zusammenhang.

Kurti: Ja, Russland ist mit dem Zerfall der Sowjetunion nicht zufrieden, obwohl es ihn verursacht hat. Das war ja keine Explosion, sondern eine Implosion. Deshalb hat es Probleme mit seinen Nachbarn und denkt, sie sollten Russland Territorium überlassen. Und Serbien ist nicht zufrieden mit dem Zerfall Jugoslawiens. Es wollte einen Teil von Bosnien und Herzegowina, es wollte nicht, dass Montenegro unabhängig wird und will den Norden Kosovos. All diese Destabilisierungsversuche Serbiens gegenüber den Nachbarstaaten sind eine Botschaft Belgrads an den Westen: Gebt uns irgendwo etwas! Serbien betrachtet uns nicht als richtige Staaten.

STANDARD: Am 24. September haben serbische Milizen einen Terroranschlag gegen die kosovarische Polizei durchgeführt. Wie ist die Sicherheitslage jetzt?

Kurti: Serbien hat eine ähnliche Haltung gegenüber Kosovo wie die Russische Föderation gegenüber der Ukraine. Serbien verfügt über 48 Operationsbasen an der Grenze zu Kosovo. Bei uns sind jedoch die NATO-geführten Kfor-Truppen stationiert. Das war offensichtlich ein entscheidender Faktor dafür, dass Serbien am 24. September nicht einmarschiert ist. Denn das war die Idee.

STANDARD: Haben Sie Beweise dafür?

Kurti: Serbien hat Truppen an der Grenze zusammengezogen. Der Sicherheitsberater der US-Regierung, Jake Sullivan forderte Serbien auf, diese Artillerie und die Truppen abzuziehen. Meiner Meinung nach hofften die Täter, dass wenn sie unsere Polizisten und ein orthodoxes Kloster aus dem 14. Jahrhundert überfielen und jemanden verletzten, dem Ganzen eine religiöse Note verleihen könnten, um dann die Armee über den Fluss zu schicken. Sie wollten offensichtlich einen größeren Konflikt über einen größeren Zeitraum, wenn man bedenkt, dass sie über fünf Millionen in Serbien hergestellte Waffen und Munition in den Kosovo gebracht hatten.

STANDARD: Wie wahrscheinlich ist es, dass Kosovo nächstes Jahr dem Europarat beitreten wird können?

Kurti: Die Rechtsabteilung des Europarats kam zu dem Schluss, dass wir zur Mitgliedschaft berechtigt sind. In der ersten Abstimmung enthielten sich zwei EU-Staaten, die Kosovo nicht anerkennen, die Slowakei und Griechenland ihrer Stimme, auch die Ukraine enthält sich, während Spanien, Rumänien und Zypern mit Nein stimmten. Jetzt haben wir eine Besuchs- und Informationsmission mit dem Europarat. Ich bin optimistisch, dass wir nächstes Jahr Mitglied werden können, davon könnten insbesondere die Minderheiten profitieren. Aber es ist sehr wichtig, dass dies vor den Wahlen in der EU und in den USA geschieht, denn einige Anzeichen sind nicht gut und wir wissen nicht, wo sich die westliche Welt danach befinden wird.

STANDARD: Kosovo bekommt mit 1. Jänner 2024 die Schengen-Visaliberalisierung. Was bedeutet das?

Kurti: Vor ein paar Jahren wäre das noch ein großes Fest gewesen. Nun denken die Leute, dass es zu spät kommt. Aber wir begrüßen das natürlich, denn für die Studierenden ist das besonders gut, sie müssen nicht mehr für Visa bezahlen und Geschäftsleute müssen nicht mehr warten, wenn sie zu einer Konferenz eingeladen werden.

STANDARD: Können die Kosovaren dann auch in Staaten reisen, die Kosovo nicht anerkennen?

Kurti: Ich war letztes Jahr jedenfalls in Madrid auf einer Konferenz und die Beamten haben in meinen Diplomatenpass einen Stempel gemacht.

STANDARD: Griechenland hat den Status Kosovos erhöht, aber das Land nicht noch nicht anerkannt.

Kurti: Ja, ich habe den ehemaligen Außenminister Nikos Dendias zehn Mal getroffen und er war innerhalb von zwei Jahren sechs Mal im Kosovo. Die wirtschaftlichen Investitionen nehmen zu. Es wäre wichtig, dass es nun schnell geht. Denn wir wissen nicht, wie die Welt in zwei Jahren aussieht. Statt der vollständigen Befreiung der Ukraine und dem Ende des Krieges dort haben wir einen weiteren Konflikt im Nahen Osten. Dadurch gibt es weniger Aufmerksamkeit für den Balkan.

STANDARD: Im jüngsten EU-Bericht werden die neuen Gesetze Kosovos in der Korruptionsbekämpfung begrüsst, aber moniert, dass noch nicht genügend umgesetzt wird. Woran liegt das?

Kurti: Die Gesetzte stecken im Verfassungsgericht fest, etwa das Gesetz zur Überprüfung von Staatsangestellten mit unerklärlicherweise erworbenen Vermögenswerten. Der Hauptaktivismus der Opposition besteht darin, neue Gesetze vom Verfassungsgericht überprüfen zu lassen. Und nur einer der neun Richter im Verfassungsgericht wurde in unserer Regierungszeit ernannt. Ich habe manchmal den Eindruck, es gibt einen "verdeckten Streik" gegen die neuen Gesetze. Ich hätte jedenfalls gerne viel aktivere Staatsanwälte und eine viel effizientere Justiz. (Adelheid Wölfl, 14.11.2023)