Israel will schon etliche Tunneleingänge entdeckt haben.
Noch hat der unterirdische Kampf nicht begonnen.
via REUTERS/ISRAELI DEFENSE FORC

Seit den frühen Mittwochmorgenstunden schaut im Krieg Israels gegen die Hamas alles auf das Al-Shifa-Krankenhaus im Gazastreifen, in das die israelischen Streitkräfte eingedrungen sind. Eigentlich sind Angriffe auf zivile und medizinische Einrichtungen laut dem humanitären Völkerrecht strengstens verboten. Doch Israel erachtet das für hinfällig, da die Hamas sich dort verschanze.

Mit diesem Argument hat die israelische Armee in den vergangenen Wochen unzählige Angriffe auf zivile Ziele begründet und Zivilisten davor vorgewarnt – oft mit einem Verweis auf mutmaßlich darunterliegende Hamas-Tunnel. So einen soll es auch unter dem Al-Shifa-Spital geben. Am Sonntag teilte die israelische Armee schließlich mit, sie sei tatsächlich fündig geworden: In zehn Meter tiefe befinde sich ein 55 Meter langer "Terrortunnel".

Versteckt in einem Holzverschlag

Der Tunnel sei mit einer bombensicheren Tür gesichert, hieß es von der israelischen Armee weiter. "Diese Art von Türen werden von der Terrororganisation Hamas verwendet, um israelischen Kräften den Zutritt zu Kommandozentren und Untergrundanlagen zu verwehren, die der Hamas gehören." Das Militär veröffentlichte auch ein Video, das einen schmalen betonierten Tunnel und eine graue Tür zeigt. Keine Angaben gab es dazu, was sich hinter der grauen Tür verbirgt. Die israelischen Truppen seien zudem damit beschäftigt, "die Route des Tunnels aufzudecken", hieß es vom Militär. Der Zutrittsschacht zum Tunnel befand sich laut der Armee in einem Holzverschlag auf dem Gelände des Krankenhauses. Dort habe man auch Munition gefunden. Die Hamas hat bisher die Existenz von Tunnelanlagen unterhalb von Al-Shifa stets bestritten.

Die Tunnel der Hamas zu zerstören ist eines der erklärten Hauptziele der israelischen Offensive im Gazastreifen nach den Hamas-Terrorangriffen vom 7. Oktober. Sie dienen der Terrororganisation unter anderem als Kommandozentrale, Verstecke, uneinsehbare Schleichwege, Waffendepots, gut ausgestattete Bunker und Startrampe für Angriffe.

Doch das Vorhaben Israels ist äußerst schwierig. Niemand kennt das Tunnelsystem so gut wie sein Erbauer selbst: die Hamas. Sie zu zerstören birgt Gefahren für die Zivilbevölkerung und die eigenen Soldaten. Israel will den Kampf in den tief unter der Erde liegenden Tunnel um jeden Preis vermeiden. Denn dieser wäre wohl, darin sind sich Experten einig, äußerst grässlich.

Video: Gaza: Israel präsentiert angeblichen Tunnelschacht.
AFP

Wie viele Tunnel unter dem Gazastreifen liegen, ist unklar. Sowohl Israel als auch der Hamas werden Aussagen über ein rund 500 Kilometer langes Tunnelsystem zugeschrieben. Zum Vergleich: Die Streckenlänge des Wiener U-Bahn-Netzes beträgt 83 Kilometer.

Fachleute weisen aber immer wieder darauf hin, dass diese Zahlen nur Spekulationen sind, etwa die israelische Forscherin Daphné Richemond-Barak, die ein Buch zu den Tunnelsystemen der Hamas veröffentlicht hat. Niemand außer der Hamas selbst wisse wohl genau, wie viele Tunnel und wo genau es sie gibt. Und das, obwohl die israelischen Geheimdienste als extrem gut informiert gelten. Bislang will die israelische Armee 300 Tunnelschächte zerstört haben, es dürfte jedoch tausende geben.

Es ist wohl kaum verwunderlich, dass die israelische Armee angesichts dieser Dimensionen manchmal von der "Gaza Metro" spricht. Laut israelischen Angaben verlaufen die Tunnel insbesondere unter den zwei größten Städten im extrem dichtbesiedelten Gazastreifen – Gaza-Stadt und Khan Younis – und damit zwangsläufig häufig unter zivilem Gebiet.

Diese an israelische Angaben angelehnte Karte zeigt schematisch die Konzentration der Tunnel unter den Ballungszentren mit der höchsten Bewohnerdichte. Die meisten Tunnel liegen unter Gaza-Stadt und Khan Younis, wie israelische Daten zeigen. Die Zahl der zerstörten Tunnel ist laut Israel inzwischen höher.

Auch entlang der ägyptischen Grenze zum Gazastreifen wurden immer wieder Schmuggeltunnel dokumentiert. Berichten zufolge wird dort bereits seit den Achtzigerjahren, als Israel und Ägypten die Grenzen abgeriegelt haben, geschmuggelt. Die Tunnel wurden immer wieder von Ägypten, Israel (das den Gazastreifen bis 2005 besetzte), aber auch Palästinensern, die den Schmuggel kontrollieren wollten, zerstört. Doch all das beendete den Schmuggel nicht, und neue Tunnel wurden gebaut. Auf diesem Weg gelangte alles Mögliche – von Nutztieren über Waschmaschinen bis Waffen – jahrelang in den Gazastreifen. Wie viele dort heute noch existieren, ist nicht bekannt.

Die Zahl der Tunnel unter dem Gazastreifen selbst und an der Grenze zu Israel stieg drastisch, als die Hamas 2007 die Kontrolle über den Gazastreifen übernahm. Israel reagierte, führte – mit Unterstützung Ägyptens – schrittweise strengere wirtschaftliche Blockaden ein und verbot die Einfuhr von allem, was den Menschen in Gaza ein Leben über dem Existenzminimum erlaubt hätte.

Für die Hamas bedeutet ihr unterirdisches Tunnelsystem längst nicht nur mehr Waren- und Waffenschmuggel, sondern auch verdeckte Kommunikationswege, Verstecke und Hinterhalte. Es ermöglichte etwa grenzüberschreitende Angriffe auf Israel – wie beispielsweise bei der Entführung des israelischen Soldaten Gilad Schalit im Jahr 2006. In einer "Vice"-Dokumentation aus dem Jahr 2021 bezeichnete einer der Hamas-Kämpfer die Tunnel unter zivilem Gebiet und den Kampf unter der Erde als "einzige Möglichkeit", sich zur Wehr zu setzen: Luftraum und Meer würden von Israel kontrolliert. Auch bei dem Terrorangriff am 7. Oktober spielten sie eine große Rolle: Spezielle Hamas-Trupps warteten an den Tunneleingängen nahe des Grenzzauns, um die entführten Geiseln in den riesigen Tunnelkomplex unter dem Gazastreifen zu bringen.

Israelische Soldaten inspizieren einen Tunneleingang im Gazastreifen.
Israelische Soldaten inspizieren einen Tunneleingang im Gazastreifen.
via REUTERS/ISRAEL DEFENSE FORCE

Nur wenige Menschen haben die Tunnel der Hamas von innen gesehen. Darunter etwa die britische Journalistin Isobel Yeung, die für die erwähnte "Vice"-Dokumentation einen Tunnel in der Begleitung von Hamas-Kämpfern besichtigt hat.

Eine weitere seltene Zeugin ist die Israelin Yochewet Lifshitz. Die 85-Jährige wurde am 7. Oktober von der Hamas entführt und 17 Tage später wieder freigelassen. Sie beschrieb ein "Spinnennetz" aus feuchten Tunneln, durch die sie geführt wurde, bevor man sie in einen Raum mit rund einem Dutzend Geiseln brachte.

Nach Angaben der "New York Times" sind die Tunnel im Schnitt maximal zwei Meter hoch und einen Meter breit. Berichten zufolge sind manche jedoch sogar so breit, dass auch ein Fahrzeug darin Platz hat. In andere seien wiederum Schienen verlegt, sodass auch Waffen und schweres Gerät transportiert werden können. Bis zu 40 Meter sollen diese Tunnelsysteme laut Experten in die Tiefe gehen.

Die Eingänge sehen oft unauffällig aus: einfache Türen oder Bodenluken, mal auf freiem Gelände, mal in Kellern von Wohnhäusern oder in den Kinderzimmern von Hamas-Anführern. Waren die Tunnel vor Jahren noch einfache mit einem Handbohrer gefertigte Konstruktionen mit hoher Einsturzgefahr, gelten sie heute als massive Konstruktionen, die mehrere Milliarden an US-Dollar gekostet haben sollen.

Fachleuten zufolge lagert die Hamas in den Tunneln zudem massenweise Sauerstoff, Luftfilter, Nahrung, Wasser und Sprit für ein eigenes Stromnetz. Quasi alles, was benötigt wird, um unter der Erde zu überleben und dort auch lange zu bleiben.

Obwohl das israelische Militär der Hamas militärisch weit überlegen ist, ist der Kampf gegen einen Feind mit einem eigenen Tunnelnetz ein risikoreiches Unterfangen. Bei der letzten großen Offensive der israelischen Armee im Gazastreifen vor neun Jahren stellten die Tunnel die Israelis laut einer Analyse der US-Denkfabrik Rand Corporation vor überraschende Probleme. Sie wollten sie innerhalb weniger Tage zerstören – insbesondere jene, die nach Israel führten. Die Angriffe aus der Luft brachten dabei nur wenige Erfolge, eine Bodenoffensive folgte. Letztlich dauerte es Wochen, um nur einen Bruchteil – insgesamt 32 von damals geschätzten 1.300 Tunneln mit einer Gesamtlänge von 100 Kilometern – zu zerstören.

Laut der Rand Corporation hatten die Soldaten dabei Schwierigkeiten, die Tunnel zu finden, in sie einzudringen und sie zu zerstören. Danach rief die israelische Armee die Einheit Samur (übersetzt "Wiesel") ins Leben, um sich auf den Kampf in den Tunnel zu spezialisieren. Diese Einheit soll laut Berichten auch erhebliche finanzielle Unterstützung aus den USA bekommen haben.

John W. Spencer von der US-Militärakademie Modern War Institute sagte jüngst in einem Podcast, dass der Kampf unter der Erde eher mit dem Kampf unter Wasser zu vergleichen sei als mit Boden- oder Häuserkämpfen. Es brauche allein für das Atmen, Sehen, Navigieren und Kommunizieren eine Spezialausrüstung. Und auch für das Töten.

Eine große Gefahr seien auch die ferngesteuerten Sprengfallen, mit denen die Hamas insbesondere Tunneleingänge versehen haben soll. Fachleuten zufolge könnte die Hamas diese zünden, sobald israelische Soldaten in einen Tunnel eindringen. Auch das Identifizieren von Tunneleingängen bleibt eine riesige Herausforderung. Immerhin gibt es unzählige davon, die meisten gut versteckt in Garagen, Fabriken, normalen Häusern und aktuell unter vielen Trümmern. Viele der Tunnel sollen mehrere Eingänge haben: Es reicht also nicht, nur einen zu zerstören.

Zunächst konzentrieren sich die Streitkräfte darauf, möglichst viele Tunneleingänge zu finden. Die Bodentruppen durchforsten nach israelischen Angaben die eroberten Gebiete im Gazastreifen. Fachleuten zufolge kommen zudem diverse Technologien für einen Einsatz infrage: So könnten etwa Satellitenradare kleinste Niveauunterschiede auf der Erdoberfläche feststellen, doch wegen des intensiven Bombardements Israels im Gazastreifen ist die Methode derzeit wohl kaum effektiv. Des Weiteren gibt es Technologien, die mithilfe von Radar- oder Schallwellenmessgräten Hohlräume unter der Erde finden können. Doch auch diese können nicht in jeder Lage angewandt werden.

Auch Überwachungsmaßnahmen können laut Expertenmeinungen gute Indizien liefern: etwa wenn zahlreiche Personen ein Haus betreten und mehr als 24 Stunden nicht herauskommen. Israel setzt zur Ermittlung solcher Bewegungsmuster offenbar Überwachungsdrohnen und auch Gesichtserkennungssoftware ein. Außerdem haben israelische Geheimdienste auch durch Spionage versucht, Tunnelbauer und Karten zu finden.

Wenn ein Tunneleingang entdeckt wird, werden diese zunächst auf Sprengfallen untersucht. Danach wird entweder von Fachleuten vor Ort eine Sprengung vorgenommen, oder es wird die Luftwaffe für ein Bombardement aus der Luft angefordert. Das klappt jedoch offenbar nur bei flacheren Tunnel gut. Außerdem verursachen stärkere Bomben, wie "bunkerbrechende Bomben" massive Zerstörungen und möglicherweise unbeabsichtigte Tote im Umkreis. Ein konkretes Beispiel ist Israels Angriff auf das Jabalia-Flüchtlingslager, bei dem jüngst dutzende Menschen starben.

Ebenfalls zum Einsatz sollen sogenannte Sponge Bombs (übersetzt Schwammbomben) kommen, heißt es in diversen Medienberichten, die sich auf anonyme israelische Militärs berufen. Diese enthalten demnach Chemikalien, die einen sich rasch ausbreitenden und erhärtenden Schaum produzieren, der Eingänge versiegeln kann. Davor sollen auch Rauchgranaten zum Einsatz kommen, denn wenn der Rauch anderweitig aufsteigt, könnten weitere Eingänge ausgemacht werden.

Die Soldaten stützen sich außerdem zunehmend auf Bodenroboter, die in den Tunnel geschickt werden, um nach Sprengfallen und Hinterhalten Ausschau zu halten. "Einen Tunnel zu betreten, nachdem ein Roboter ihn durchkämmt hat, macht die Situation weit weniger stressig", wird ein israelischer Elitesoldat in einer aktuellen Studie zitiert, auf die sich der "Economist" beruft. Soldaten in die Tunnel zu schicken ist eine äußerst gefährliche Angelegenheit. Die Spezialeinheiten trainieren dafür in nachgebauten Hamas-Tunneln, um sich an die schwierigen, für viele klaustrophobischen Bedingungen zu gewöhnen. Nur wenige Soldaten halten das laut Experten wegen der hohen mentalen Belastung aus.

Viele Experten meinen, dass es nicht reichen wird, Tunneleingänge zu sprengen und versiegeln. Wenn Israel sein Ziel, alle Tunnel zu zerstören, erreichen will, muss es in die Tunnel eindringen. Doch wann und ob Israel für einen unterirdischen Großeinsatz überhaupt bereit sein wird, ist unklar. Vergangene Woche hatte Militärsprecher Richard Hecht bereits Israels entsprechende Bereitschaft angekündigt: "Jetzt werden wir anfangen, uns ihnen zu nähern".

Nach Angaben von Ahron Bregman, einem Nahostkonflikt-Experten am Londoner King's College, wird Israel, jedoch solange es geht, auf Luftangriffe und lokale Sprengungen setzen. Derzeit würden die Bodentruppen im Zusammenspiel mit den Luftkräften genug Fortschritte machen. Wie Bregman der "New York Times" sagt, hält er Kämpfe in den Tunneln vorerst für unwahrscheinlich. Denn dabei würden die israelischen Streitkräfte ihre Oberhand verlieren: "In dem Moment, wo es in die Tunnel geht, steht es einer gegen einen."

Bregman glaubt so und so nicht daran, dass Israel alle Tunnel zerstören kann. Das Tunnelsystem sei dafür einfach zu groß. Auch die vergangenen Jahre haben gezeigt: Selbst wenn Israel kilometerweise Tunnel zerstört, die Hamas bohrt einfach weiter.

Die israelische Tunnelexpertin Daphné Richemond-Barak warnt ebenfalls davor, Soldaten in die Tunnel zu schicken. "Ich war bereits in dem Tunnelsystem – und wenn man da runtergeht, verliert man schnell jeden Orientierungs- und Zeitsinn", warnt sie. Soldaten dort hineinzuschicken, das sollte nur der letzte Ausweg sein, etwa um Geiseln zu retten. (Flora Mory, 15.11.2023)