Eigentlich wollte die 23-jährige Studentin Wera Pechtelewa aus dem sibirischen Kemerowo in der Nacht zum 14. Jänner 2020 nur ein paar Sachen aus der Wohnung ihres Ex-Freundes holen. Doch die Wohnung sollte die junge Frau nicht mehr lebend verlassen. Man fand sie tot, blutend aus über 100 Wunden, so steht es in den Gerichtsakten. Eine Beziehungstat, ein bestialischer Mord. Doch der Mörder, ihr Ex-Freund, ist heute ein freier Mann. Er ließ sich im Straflager von der Söldnergruppe Wagner anwerben, überlebte die Kämpfe in der Ukraine und wurde schließlich von Russlands Präsident Wladimir Putin begnadigt.

Nachbarn hörten in jener Nacht Pechtelewas Schreie, sie versuchten in die Wohnung zu kommen, riefen siebenmal die Polizei. Dreieinhalb Stunden dauerte das Martyrium der Studentin. Als die Polizei endlich kam, war Pechtelewa schon tot. Ihr Mörder saß im Badezimmer auf dem Boden und trank Wodka. Er wollte sie einschüchtern, ihr Angst machen, sie aber nicht töten, sagte er den Ermittlern. Ein Strafverfahren wegen Totschlags wurde eingeleitet, doch das Gericht befand den Täter des Mordes "mit besonderer Grausamkeit" für schuldig und verurteilte ihn zu 17 Jahren Haft in einem Hochsicherheits-Straflager. Dort ließ er sich von Wagner für den Kampfeinsatz in der Ukraine anwerben. Belangt wurden auch die Polizisten, die Pechtelewa nicht rechtzeitig geholfen hatten, die sie hätten retten können. Laut dem Onlineportal NGS42.Ru verurteilte man sie zu milden Bewährungsstrafen. Die Staatsanwaltschaft hatte Gefängnisstrafen bis zu dreieinhalb Jahren gefordert.

Schweigende Medien

Gegen das – gemessen an der grausamen Tat – milde Urteil für den Mörder von Pechtelewa legte ihre Familie Berufung ein, forderte eine härtere Bestrafung. Eine entsprechende Verhandlung wurde angesetzt, doch da war der Täter schon entlassen und im Ukraine-Einsatz. Pechtelewas Mutter Oxana sah später Fotos des Mörders ihrer Tochter in sozialen Netzwerken. Er ist darauf bewaffnet und trägt Tarnkleidung.

Mit der Begnadigung will sich Oxana Pechtelewa nicht abfinden. Der Fall wird in sozialen Netzwerken diskutiert, Oxana Pechtelewa sagt laut dem Onlinemedium Medusa: "Ich verstehe, dass dies ein Kampf gegen Windmühlen ist, der nirgendwohin führt. Niemand wird uns hören, niemand wird uns helfen. Absolut alle staatlichen Medien schweigen."

Wagner-Söldner schwenken die russische Flagge und die Flagge der Söldnertruppe über den Ruinen von Bachmut.
Wagner-Söldner schwenken die russische Flagge und die Flagge der Söldnertruppe über den Ruinen von Bachmut.
AP

Seit Anfang April bekannt wurde, dass tausende Ex-Häftlinge von der Front zurückkehrten, ist die Angst in der russischen Bevölkerung gewachsen. Straftäter wie der Mörder von Wera Pechtelewa mussten sechs Monate bei Wagner dienen, dafür versprach man ihnen die Freiheit. Im April waren laut Angaben des inzwischen verstorbene Söldnerchefs Jewgeni Prigoschin mehr als 5.000 Straftäter zurück und leben seitdem frei im Land. "Sie sind zu echten Patrioten ihres Landes geworden", sagte Prigoschin damals. Inzwischen wirbt Wagner keine Strafgefangenen mehr an, doch insgesamt sollen mehr als 50.000 Häftlinge für Wagner in der Ukraine gekämpft haben, so Schätzungen. Wie viele davon gestorben sind, wie viele zurückgekehrt, ist unbekannt.

Bedrohung für die Sicherheit

"Ihre Begnadigung ist eine direkte Bedrohung für die Sicherheit und das Leben der Frauen und ihrer Kinder“, schreiben Frauen im Netz. Ewa Merkatschowa, die für den russischen Menschenrechtsrat arbeitet, meint, dass Russland ein Rehabilitierungswesen brauche, weil bei den "oft so schon gestörten" Straftätern nun noch die Kriegstraumata hinzukämen. Russland fehle bisher ein System, um Straftäter auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten. Bekannt ist der Fall eines wegen Mordes verurteilten Wagner-Kämpfers, der nach der Rückkehr in seine Heimatregion erst ein Autofenster mit einer Axt einschlug und dann eine 85 Jahre alte Frau im Nachbarort tötete. Von seinen 14 Jahren Haft hatte der Mann gerade einmal zwei abgesessen, als er von Wagner angeworben wurde.

Die Diskussionen im Netz über die Begnadigung des Mörders von Wera Pechtelewa und anderer Straftäter gehen weiter. Jetzt musste sogar Kreml-Sprecher Dmitri Peskow Stellung beziehen. Laut der Nachrichtenagentur Interfax erläuterte er vor Journalisten den Weg des Begnadigungsverfahrens durch verschiedene Institutionen. Dann würden die entsprechenden Dokumente Präsident Putin zur Entscheidung vorgelegt. "Der zweite Weg ist, dass sie ihre Schuld mit Blut begleichen", so Peskow. "Die Verurteilten, unter ihnen auch Schwerverbrecher, büßen für ihr Verbrechen mit Blut auf dem Schlachtfeld." (Jo Angerer aus Moskau, 16.11.2023)